Tanz und Tod in Paul Celans Todesfuge

  • Danse and Death in Paul Celan’s Todesfuge

Der Aufsatz fokussiert auf die Verweise auf Tanz und Tod in „Todesfuge“ von Paul Celan und analysiert das enge Verhältnis, das beide verbindet. Diese Verbindung zwischen Tanz und Tod verweist insbesondere auf die Tradition des Totentanzes in der europäischen Kulturgeschichte sowie auf die Praxis des Todestangos im Nationalsozialismus. Der Artikel untersucht die Konnotationen, die diese Verweise hervorrufen, insbesondere in Bezug auf die Verbindung zwischen Shoah und europäischer Kultur, sowie auf die Funktion der Erinnerung an die Shoah, die Celans Gedicht sich zu eigen macht.

The essay focuses on those elements in “Todesfuge” by Paul Celan that can be associated with dance and death, analyzing the close interconnection between them. This link refers chiefly to the tradition of the Totentanz or Dance of Death in European cultural history as well as to the nazi practice of the Todestango or Death Tango. Moreover, the paper explores the connotations evoked by these references, particularly regarding the link between Shoah and European culture as well as the task of perpetuating of the memory Shoah memory that Celan’s poem makes its own.

L’étude se focalise sur les éléments liés à la danse et à la mort dans « Todesfuge » de Paul Celan et analyse le rapport étroit qui les unit. Ce rapport renvoie notamment à la tradition de la danse macabre dans l’histoire culturelle européenne ainsi qu’à la pratique nazie du Todestango ou Tango de la mort. L’article explore les connotations que ces renvois évoquent, notamment par rapport au lien entre la Shoah et la culture européenne ainsi qu’à la fonction de perpétuation de la mémoire de la Shoah que le poème de Celan assume.

Outline

Text

Paul Celans Todesfuge gilt als eines der bekanntesten Gedichte der Shoah-Literatur. Mehrmals wurde das Gedicht in Bezug auf seine musikalischen Elemente untersucht, insbesondere im Hinblick auf Ähnlichkeiten zur musikalischen Fuge, die schon im Titel des Gedichts angedeutet werden. Eng mit musikalischen Elementen sind auch Tanzelemente verbunden, die im Gedicht auftauchen. Der Tanz ist dabei nie Ausdruck der Lebensfreude oder der Vitalität, sondern stets mit dem Tod verbunden, sowohl in der grausamen Realität des Lagers als auch als Andeutung der kulturellen bzw. literarischen Zusammenhänge des Todestangos und des Totentanzes. Da diese Tanzelemente in der Forschung bisher kaum thematisiert wurden, versucht diese Studie, den Zusammenhang und die daraus entstehenden Konnotationen bzw. deren Einfluss auf die Interpretation des Gedichtes aufzuweisen.

1. Der Todestango

Die Verbindung zwischen Juden und Tango im Zweiten Weltkrieg, die einen grausamen Ausdruck im Todestango findet, ist vielfältig. Nach dem Ersten Weltkrieg erreichte der Tango, aus Südamerika kommend, die europäische Szene, wo er sich in den Kabaretten, vor allem in Paris, verbreitete und seinen distinktiven melancholischen Charakter annahm, wie Hess (1996 : 21) in seiner Studie über den Tango umfassend darstellt.

Dieses Tanz- und Musikgenre, das die Musik- und Unterhaltungsszene der bürgerlichen Gesellschaft der zwanziger und dreißiger Jahre charakterisierte, verbreitete sich ebenfalls im jüdischen Milieu, wo es ins Jiddische übersetzt wurde und von den Juden als „Vehikel, um die Schwierigkeiten ihres alltäglichen Lebens auszudrücken“ (Biagini 2004 : 4), benutzt wurde. In den Kriegsjahren blieb der Tango im jüdischen Umfeld weiterhin präsent: Auch in den Ghettos und in den Konzentrationslagern griffen musikalische Häftlinge u.a. auf den Tango zurück, um ihren Gefühlen Ausdruck zu verleihen. Wir wissen z.B. dank der Berichte von einigen Überlebenden der Konzentrationslager, die Gilbert (2005 : 155-157) in ihrer Studie analysiert, vom „Tango fun Oshvientshim“ (Der Tango von Auschwitz), den ein jüdisches Mädchen zu der Musik eines Vorkriegstangos geschrieben hatte. Weitere Belege für das Vorkommen des Tangos sowie weiterer Tanzmusik in Konzentrationslagern verdanken wir Alexander Kulisiewicz, einem polnischen Studenten und Amateur-Musiker, der während seiner Jahre als Inhaftierter des Konzentrationslagers Sachsenhausen mehrere Hunderte von im KZ entstandenen Liedern auswendig lernte und nach dem Krieg in einem Archiv sammelte.

Der Tango prägte auch auf eine andere, grausame Weise das Leben der KZ-Häftlinge, und zwar in Form des sogenannten „Todestango“. Dieser war im engeren Sinne der Titel eines Liedes, das in den Konzentrationslagern auf Befehl der SS-Leitung auf Musik eines Vorkriegstangos von Eduardo Bianco verfasst wurde. Im weiteren Sinne wurde mit „Todestango“ aber auch allgemein die Praxis der SS bezeichnet, einen Teil der Häftlinge dazu zu zwingen, Tango und andere modische Tanzmusik der Zeit zu spielen, während andere Inhaftierte Gräber schaufelten oder zu den Gaskammern gebracht wurden. Gerade auf diese makabre Praxis verweist auch das Gedicht Celans: „Er ruft stecht tiefer ins Erdreich ihr einen ihr andern singet und spielt“. (Celan 2003 : 101-102) Um den Zusammenhang des Todestangos besser zu verstehen, lohnt es sich, einen Blick auf die Rolle der Musik in den Konzentrationslagern der NS-Diktatur 1933-1945 zu werfen.

2. Die Musik in den Konzentrationslagern

Die Musik war auf zweierlei Weise in den Konzentrationslagern präsent. Wie schon oben kurz erwähnt, gab es Musik, die auf Initiative der Inhaftierten entstand und von der SS-Leitung toleriert wurde. Diese Art von Musik, meistens einfaches Musizieren oder Singen, fand in den wenigen freien Stunden des Lageralltags statt und betraf nur wenige privilegierte Häftlinge, die dafür noch die musikalischen Kenntnisse, aber vor allem die Zeit und die Energie hatten (vgl. Fackler 2000 : 368).

Neben dem selbstbestimmten Musizieren, das eine positive Wirkung haben konnte (Fackler 2000 : 366ff), gab es in den Konzentrationslagern auch eine zweite Form der Musik, die von der SS-Leitung aufgezwungen wurde. Die Musik war nämlich ein fester Bestandteil des Terrorapparats der Nationalsozialisten und prägte somit das Alltagsleben der Konzentrationslager. Sie wurde zum einen benutzt, um die alltäglichen Aktivitäten des Lagers musikalisch zu betonen: In vielen Konzentrationslagern spielte eine aus Häftlingen zusammengestellte Lagerkapelle beim Aus- und Einmarsch der Arbeitskommandos. Zum anderen hatte die Marschmusik, wie Gilbert in ihrer Studie feststellt, auch eine weitere Funktion: „Sie gab etwas Ordentliches, fast Militärisches zu dem, was sonst eine erbärmliche Prozession von geschwächten, abgemagerten Häftlingen war“ (Gilbert 2005 : 186).

Die Lagerkapelle spielte außerdem auch bei Appellen und Strafaktionen. Alternativ wurde auch Musik aus Lautsprechern übertragen, oft mit der Absicht, Mordaktionen und Massenerschießungen zu tarnen. Darüber hinaus wurde die Lagerkapelle häufig auch bei der Ankunft neuer Häftlinge an den Eingang des Lagers platziert. In diesem Fall hatte die aufmunternde Musik eine beruhigende Funktion:

„Viele ehemalige Häftlinge erinnerten sich daran, dass die Anwesenheit von Orchestern tatsächlich ein Gefühl der Ruhe wiederherstellte und zu dem Gedanken führte : ‚Es kann nicht so schlimm stehen’. Die Orchester dienten dazu, die Neuankömmlinge von dem abzulenken, was gerade wirklich passierte, und ihren Schock zu lindern. Somit konnte ihre Kooperationsbereitschaft leichter gewonnen werden.“(Gilbert 2005 : 178)

Die Musik fungierte als Täuschungsmanöver ebenfalls bei auswärtigen Besuchern von Externen, z.B. vom Roten Kreuz, um die Lebensbedingungen im Lager besser und menschlicher darzustellen, als sie tatsächlich waren. (Fackler 2000 : 355)

Die Lagerkapellen, oft auch aus professionellen und renommierten Musikern zusammengesetzt, hatten zudem die Aufgabe, Unterhaltungskonzerte für die SS zu spielen:

„Diese Aufführungen boten den SS-Männern die Gelegenheit, sich mit ihren eigenen emotionalen Bedürfnissen zu befassen, sowohl im Sinne einer Ablenkung von den eigenen Taten als auch – vielleicht wichtiger – im Sinne einer Konstruktion ihres Verhaltens innerhalb eines raffinierten, „zivilisierten“ Paradigmas“ (Gilbert 2005 : 187). Auch Fackler betont: „Nicht zuletzt diente den Tätern die Musik zur Aufrechthaltung einer scheinbaren Normalität und zur Bestätigung ihres Selbstbildes als gönnerhafte Kulturmenschen“ (Fackler 2000 : 365).

Die Musik wurde schließlich, wie schon oben beim Todestango erwähnt, zu einem Folterinstrument: „Viele polnische Häftlinge [...] berichteten davon, wie sie von den SS-Männern dazu gezwungen wurden, rührselige Lieder zu singen, was eine Folter bedeutete.“ (Gilbert 2005 : 176) Darüber hinaus mussten die bereits erschöpften Inhaftierten bei den verschiedensten Gelegenheiten (Marschieren, Appelle, Arbeitseinsätze usw.) auf Befehl ein Lied singen. Wenn die SS mit dem Ergebnis nicht zufrieden war, gab es Strafaktionen: „Wer das Lied nicht kannte, der wurde geprügelt. Wer zu leise sang, wurde geprügelt. Wer zu laut sang, wurde geprügelt.“ (Eberhardt Schmidt, zitiert nach Fackler 2003 : 9)

Ähnlich heißt es in einem von Fackler zitierten Zeugenbericht: „[...] im KZ Esterwegen [wurde] ein älterer Jude bei seiner Ankunft aus der Gruppe der Neueingelieferten herausgegriffen‚ bekam eine Blechtrommel übergestülpt und musste so zur Gaudi der SS-Leute tanzen.“ (Fackler 2000 : 129) Auch an anderen Stellen berichtet Fackler von der Entwürdigungsfunktion des Tanzes und der Musik, die besonders die jüdischen Häftlinge betraf (Fackler 2000 : 138).

3. Vom Todestango zur Todesfuge

Den Verweis auf die makabre Praxis des Todestangos findet man, wie oben angedeutet, im Text des Gedichts von Paul Celan. Der Hinweis darauf war in der ersten Veröffentlichung der Todesfuge in der Zeitschrift Contemporanul in der rumänischen Übersetzung noch expliziter. Nicht nur war der Text von einer kurzen Erklärung eingeführt, welche die Wahrhaftigkeit des Erzählten bestätigen sollte:

Das Gedicht, dessen Übersetzung wir veröffentlichen, geht auf Tatsachen zurück. In Lublin und anderen ‚Todeslagern’ der Nazis wurde ein Teil der Verurteilten gezwungen aufzuspielen, während ein anderer Gräber schaufelte. (S. Crohmalniceanu, zitiert nach Solomon 1982 : 223)

Der Titel selbst lautet zudem auf Rumänisch Tangoul mortii, also ins Deutsche übersetzt Todestango. Es ist umstritten, ob dieser Titel eine Wahl des Übersetzers Petre Solomon war, die vom Autor akzeptiert wurde, oder ob die Idee von Celan selbst stammte. Während Solomon behauptet, dass der Titel Todestango von Celan stammte und erst später zur Todesfuge wurde (Solomon 1982 : 223, 226), erinnert sich Alfred Kittner an eine Lesung des Gedichtes vom Autor selbst im Jahr 1944, bei der der Titel schon Todesfuge war (Kittner 1982 : 218). Obwohl wir die Entstehungsgeschichte nicht (mehr) nachvollziehen können, steht auf jeden Fall fest, dass der Titel Todestango (und allgemein die Hinweise auf den Todestango) eine ganz andere Reihe von Konnotationen hervorruft als der spätere Titel Todesfuge.

Auch auf der Ebene der Form gibt es Elemente, die auf den Tango bzw. auf die Tanzmusik im Allgemeinen zurückgeführt werden können, wie zum Beispiel der Rhythmus und die gewisse Musikalität, die durch die Wiederholungen und insgesamt die Struktur des Gedichtes entstehen. Gerade die Musikalität und der Rhythmus können zum einen als Verweise auf das Tänzerische, insbesondere auf den Tango und den Totentanz, interpretiert werden, zum anderen auch als musikalische Elemente. Bei deren Analyse sind deutliche Parallelen zur musikalischen Fuge festzustellen, worauf schon der (neue) Titel des Gedichtes hinweist:

Die fugierte Präsentation stellt ein ebenso spannungsvolles artistisches Spiel dar. Es ist vornehmlich getragen von komplexen Wiederholungs-, Spiegelungs- und Projektionstechniken. – Celan überführt das musikalische Kompositionsprinzip in eine Partitur aus mehrstimmigen Wort-Klang-Bildfolgen. Sie sind jeweils untergliedert in Stimmfetzen, aus denen sich Bedeutungslinien konstituieren. (Buck 1999 : 36)

Schon bezüglich des für die Fuge grundlegenden Prinzips der Polyphonie fällt eine Parallele auf: Im Gedicht sind sowohl die Stimme(n) der Juden (das wiederkehrende „wir“) als auch die Stimme des SS-Mannes (das wiederkehrende „Er“) vertreten. Die Sätze und Satzteile, die der jeweiligen Stimme zugeordnet werden können, wiederholen sich, alternieren und unterbrechen sich gegenseitig. Es entsteht somit eine Struktur, die an den Kontrapunkt der Fuge erinnert: „Durchgängig folgt der Autor dem kontrapunktischen Kompositionsprinzip der Fuge. Stimme und Gegenstimme, Bild und Gegenbild erzeugen im Wechsel die thematisch vorgegebene extreme Spannung“ (Buck 1999 : 38).

Die Wiederholungen, die Polyphonie und der Kontrapunkt tragen zusammen mit der teilweise extremen Parataxe zur Musikalität des Gedichtes bei. Trotzdem sollte man die Parallelen zur Fuge nicht überinterpretieren:

„Todesfuge“ lädt zum Verständnis der polysemischen Struktur als analog zur polyphonen Struktur ein; […] Sie lädt zum Verständnis eines verbalen Motivs wie „Schwarze Milch der Frühe” als ein stets wiederkehrendes fugales Subjekt ein, usw. Allerdings beziehen sich diese Begriffe von Polyphonie, Kontrapunkt, Singstimmen und fugalem Subjekt nicht aufeinander, wie sie es in der Musikterminologie tun, und man sollte es von ihnen auch nicht verlangen. […] In einem verbalen Gedicht müssen diese Begriffe fragmentarisch bleiben, die Andeutungen und die Implikationen einer musikalischen Struktur sowie der Versuch, sie in eine kohärente fugale Form zusammenzusetzen, sind nicht nur zum Scheitern verurteilt, sondern auch äußerst uninteressant. (Englund 2012 : 34-35)

Celan selbst bestritt, dass er das Gedicht nach den Prinzipien der Fuge komponiert habe:

Mein Gedicht ‚Todesfuge’ (nicht: Die Todesfuge) ist nicht ‚nach musikalischen Prinzipien komponiert’; vielmehr habe ich es, als dieses Gedicht da war, als nicht unberechtigt empfunden, es ‚Todesfuge’ zu nennen: von dem Tode her, den es – mit den Seinen – zur Sprache zu bringen versucht. Mit anderen Worten: ‚Todesfuge’, – das ist ein einziges, keineswegs in seine ‚Bestandteile’ aufteilbares Wort. (Celan 2003 : 608)

4. Der spätmittelalterliche Totentanz

Die Musikalität des Gedichtes, der Kontrapunkt, die Wiederholungstechniken und die Polyphonie erinnern nicht nur an die musikalische Fuge, sondern auch an den spätmittelalterlichen Totentanz. Die spätmittelalterlichen Totentänze, eine bis heute einflussreiche Thematisierung der Verbindung zwischen Tod und Tanz in Kunst und Literatur, entstanden im Kontext der Pestwellen, denen Millionen von Menschen in Europa zwischen dem 14. und 17. Jahrhundert zum Opfer fielen (vgl. Link 1993 : 11). In dieser bildkünstlerischen und literarischen Auseinandersetzung mit dem Tod und dem Sterben in Form eines Tanzes wird die Menschheit, repräsentiert von den verschiedenen Ständen und Altersgruppen, zusammen mit Gerippen oder Tod-Gestalten sich im Tanz bewegend dargestellt.

Üblicherweise ist der Totentanz in Szenen aufgeteilt, in denen jeweils der personifizierte Tod oder ein Toter den Vertreter eines Standes oder einer Altersgruppe in den Tanz hineinzieht. Oft sind die Szenen von einem Text in gebundener Rede begleitet, der die Szene erläutert und die Botschaft des Totentanzes unterstützt. Obwohl der Totentanz eine lange Geschichte hat, die viele Erscheinungsformen und unterschiedliche Funktionen aufweisen kann, wurden die meisten mittelalterlichen Totentänze mit dem Ziel einer „Memento-Mori“-Botschaft für die Gläubigen geschaffen, die diese Kunstwerke meistens auf Friedhöfen und in Kirchen finden konnten. Die durch die lateinische Formel „Memento-Mori“ ausgedrückte Mahnung, dass alle früher oder später sterben und Verantwortung für ihre Taten tragen müssen, sollte die Christen zur Umkehrung führen und sie nicht vor dem Sterben an sich, sondern vor der ewigen Verdammnis warnen:

Der Tanz, im christlichen Kontext überwiegend als Inbegriff der Sündhaftigkeit interpretiert, bildet dabei aber nicht nur den physischen Prozess des Sterbens ab, sondern bedeutet den zweifachen Tod und damit die ewige Verdammnis, die endgültige Zerstörung von Körper und Seele. Dieser unvorbereitete Tod ohne rechtzeitige Buße oder Erhalt der Gnadenmittel ist es gerade, den die Lebenden fürchten, denn auf ihn folgt der Verlust des ewigen Seelenheils.“ (Samstad 2011 : 14-15)

Wenn man von Totentänzen spricht, bezieht man sich meistens auf die mittelalterlichen Totentänze: Es ist nämlich vor allem im Mittelalter, dass diese besondere Kunstform ihre Blütezeit kennt. In der Tat kann der Totentanz kann als „Ausdruck einer europaweit verbreiteten besonderen geistig-seelischen Disposition des spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Menschen“ (Schmidt-Glintzer 2000 : 7) gelten. Mit Änderungen in Form und Funktion blieb er allerdings auch danach fester Bestandteil der europäischen Kultur, sodass er auch zu Zeiten Celans sehr präsent im europäischen kulturellen Bewusstsein ist. In der Barockzeit gewinnt die Funktion der Seelsorge in den Totentänzen an Bedeutung, hier wird der Akzent auf die regelrechte Vorbereitung auf das Jenseits gesetzt. Mit der Aufklärung ist eine Säkularisierung der Totentänze festzustellen, die nun nicht mehr auf der christlichen Auseinandersetzung mit dem Tod und dem Sterben basieren, sondern aus den aufklärerischen Debatten über die Konventionen der Darstellung des Todes entstehen. Ihre Funktion ist nicht mehr die der Mahnung, sondern die der Dekoration und der Unterhaltung: die Totentänze vermitteln keine christlichen Werte mehr, sondern karikieren die menschlichen Schwächen. Im Laufe des 19. Jahrhunderts greift man dann auf den Totentanz zu Zwecken der politischen Meinungsbildung zurück, vor allem, um gegen Ungerechtigkeit und Gewaltausübung zu protestieren. Auch um Auseinandersetzung mit der Gewalt, vor allem in Hinblick auf die beiden Weltkriege, geht es in den Totentänzen des 20. Jahrhunderts. Die beiden Weltkriege, bei denen zum ersten Mal alle, auch die Zivilbevölkerung, direkt betroffen sind, bei denen die Menschenverluste die Millionenzahlen erreichen und wo der (willkürliche) Tod allgegenwärtig ist, lassen die Menschen an die mittelalterlichen Totentänze denken. So finden wir sowohl in den Gravuren von Otto Dix, entstanden zwischen 1915 und 1918, als auch in Frank Masereels Werk, entstanden 1940 im besetzen Frankreich, das Motiv des Totentanzes. Der Totentanz wird zudem auch im Laufe des 20. Jahrhunderts weiterhin in der Politik benutzt, zum Beispiel bei den Propagandaaktionen des Nationalsozialismus, die auf den Totentanz zurückgreifen, um die Bevölkerung vor der vermeintlichen Gefährlichkeit der Juden zu warnen. (vgl. Wunderlich : 126)

Der Zusammenhang zwischen Juden und dem Totentanz liegt allerdings viel weiter zurück: Nicht nur waren Juden in den spätmittelalterlichen Totentänzen vertreten, sondern es gibt in der jüdischen Tradition eigene Erscheinungsformen der Verbindung zwischen Tanz und Tod. Beispielsweise wurden zu Hochzeiten und Familienfeiern oft Totentänze aufgeführt (vgl. Daxelmüller : 592). Eine weitere bemerkenswerte Verbindung von Tanz und Tod in der jüdischen Kultur, welche im Hinblick auf die Praxis des Todestangos in den Konzentrationslagern eine besondere Bedeutung annimmt, ist der „Tanz zum Tode“ (vgl. Link: 14 und 24ff). Link (1993 : 25ff) berichtet von zwei Fällen in den Jahren 1349 und 1421, als Juden zum Scheiterhaufen verurteilt wurden und, den legendären Tanz des Königs Davids nachahmend, tanzend in den Tod gingen. Von den Nordhausener Juden, die 1349 infolge der Anklage, sie hätten durch Brunnenvergiftung die Pest verursacht, zum Scheiterhaufen verurteilt wurden, kennt man aus Berichten die Bitte des Rabbis und der Gemeindevorsteher an den Stadtrat, mit Tanz und Musik in den Tod zu ziehen. Nachdem diese Bitte bewilligt wurde, tanzten die Juden der Gemeinde auf einem auf dem Grab errichteten Holztanzboden, um durch Tanz und Musik den Namen Gottes zu ehren, so wie der König David im Alten Testament, als er beim Einzug nach Jerusalem hinter der Bundeslade tanzte.

Obgleich im Fall der Nordhausener Juden die Entscheidung für einen Tanz angesichts des Todes in der Hand der Juden selbst lag, sind die Parallelen zur Praxis des Todestangos in den Konzentrationslagern ersichtlich, vor allem in der zeitlichen und begrifflichen Nähe von Tanz und Tod.

5. Totentanz, Todestango und Todesfuge

Obwohl die Parallelen zur Geschichte der Nordhausener Juden besonders deutlich sind, hat Celans Gedicht – und im weiteren Sinne die Shoah, auf die sich das Gedicht bezieht – nicht nur Gemeinsamkeiten mit dem jüdischen Tanz zum Tode, sondern auch mit dem spätmittelalterlichen Totentanz. Diese gehen weit über die enge Verbindung von Tanz und Tod mit dem Tanz angesichts des Todes hinaus und betreffen auch die Form und die Bedeutung des Totentanzes.

Wie im mittelalterlichen Totentanz, handelt es sich auch bei dem von Celan beschriebenen Tanz um einen Tanz, an dem man zwanghaft teilnehmen muss. Wie die Vertreter der mittelalterlichen Stände von einem Gerippe oder dem personifizierten Tod in den Tanz gezogen wurden, so werden die jüdischen KZ-Häftlinge in seinem Gedicht vom SS-Mann aufgefordert, Tanzmusik zu spielen: „er befiehlt uns spielt auf nun zum Tanz“ (Celan 2003 : 101).

Auch der Aspekt der Gleichgültigkeit des (personifizierten) Todes den Sterbenden gegenüber kommt in der Shoah zum Ausdruck. Dieser Aspekt, der im Totentanz durch die Darstellung der unterschiedlichen Stände und Altersgruppen repräsentiert wurde, charakterisiert auch die Shoah, in der – wie es bekannt ist – alle Juden verfolgt wurden, unabhängig von Geschlecht, Alter oder Stand.

Schließlich spielt sowohl im Totentanz als auch in der Todesfuge die allgemeine Gültigkeit und Aktualität des Geschehens eine wichtige Rolle. Wie der Totentanz betrifft die Shoah auch jeden einzelnen, nicht nur diejenigen, die die Verfolgung erlitten, sondern auch die Leser von Celans Gedicht und im weiteren Sinne die Gesellschaft der Nachkriegszeit. Dementsprechend kann man das Pronomen „dich“, das zweimal im Gedicht vorkommt, als eine direkte Einbeziehung des Lesers in das Geschehene interpretieren: „Der Tod ist ein Meister aus Deutschland sein Auge ist blau/er trifft dich mit bleierner Kugel er trifft dich genau“ [meine Hervorhebung] (Celan 2003 : 102). Die direkte Einbeziehung der Leser betont und unterstützt die Funktion der Erinnerung an die Shoah, die dem Gedicht zu eigen ist und die im Text insbesondere mit den Totentanzelementen verbunden ist. Denn die Elemente, die auf den Totentanz, den Todestango oder die musikalische Fuge zurückgeführt werden können, bewirken jeweils unterschiedliche Konnotationen und Wirkungen des Gedichts selbst.

Die Wahl des Titels Todestango für die Veröffentlichung des Gedichtes in deutscher Sprache hätte die Konnotation des im Gedicht thematisierten Todestangos verstärkt. Einerseits hätte der Zeugnischarakter des Gedichtes deutlich an Gewicht gewonnen: „So gab Celans erster Titel Todestango seinem Gedicht die Aura des zuverlässigen Zeugnisses: dieser Mensch wusste, wovon er sprach, er musste selbst dort gewesen sein, musste das Gedicht dort geschrieben haben”. (Felstiner 1997 : 58) Andererseits hätte Celan damit auf den Verfall der Kultur der Vorkriegszeit hingewiesen: „Seinem Gedicht den Titel Todestango zu geben, bedeutete für Celan, jenen Tanz zu verneinen, der in seiner Kindheit Europa fasziniert hatte –den Inbegriff eines urbanen, graziösen, nonchalanten Lebens“. (Felstiner 1997 : 57)

Mit der Wahl des Titels Todesfuge für sein Gedicht und der Betonung der Totentanz-Elemente verzichtet Celan auf diese besondere Betonung des Verfalls der Kultur der Vorkriegszeit, erweitert aber den Bezug auf den Verfall der europäischen Kultur: Nicht nur die Vorkriegszeit wird in Frage gestellt, sondern die gesamte europäische Kultur. Der Widerspruch zwischen einer von Interaktionen und Interkulturalität charakterisierten Kultur und der im Gedicht thematisierten Shoah ist dadurch noch stärker. Mit der Wahl des Titels Todesfuge und dem gleichzeitigen Hinweis auf den Todestango durch die beschriebene Szene gelingt es Celan, diesen Kontrast zwischen der grausamen Realität der Konzentrationslager und der europäischen kulturellen Tradition zu betonen und sich zugleich vor Ästhetisierungsvorwürfen zu schützen. Er entfernt sich nämlich dadurch vom reinen Überlebensbericht bzw. einer (reinen) Zeugenaussage und legt stattdessen eine poetische Verarbeitung der nationalsozialistischen Judenverfolgung während der Shoah vor. Dadurch kann er den Leser auf unterschiedlichen Ebenen erreichen: Dank der Bezüge auf den Totentanz kann er beispielsweise eine metaphorische Ebene einführen, ohne dass die Wahrhaftigkeit der beschriebenen Szene in Frage gestellt wird. Die metaphorische Ebene und die Hinweise auf den kulturellen Kontext, kanalisiert durch die Bezüge auf Totentanz und Tango, verallgemeinern und aktualisieren das Erzählte: Die Shoah und ihre Schrecken haben in unserer Gesellschaft, in unserer renommierten europäischen Hochkultur stattgefunden, nicht in einem fernen barbarischen Land, wovon man sich leichter distanzieren könnte. Somit kann sich das Gedicht die Aufgabe zu eigen machen, nicht nur von der Shoah zu erzählen und die Erinnerung daran lebendig zu halten, sondern auch eine Art Mahnung zu sein, damit die Shoah nie wieder passiert.

Die untersuchten Elemente und die Konnotationen, die sie mit sich bringen, sind im Gedicht meisterhaft integriert und ausbalanciert. Deren Thematisierung und Botschaft sind weder zu brutal noch zu plakativ – was die Gefahr der Ablenkung mit sich bringen würde. Das Gedicht erschließt sich dem Leser vielmehr nach und nach und spricht ihn sowohl auf emotionaler Ebene als auch auf Vernunftebene an. Die besondere Fähigkeit Celans, mit seinem Gedicht gleichzeitig Verstand und Gefühl anzusprechen, wird bei der Lesung der Todesfuge durch den Autor noch verstärkt, vor allem durch zahlreiche performative Elemente wie die Wahl strategischer Pausen, Verlangsamungen und Beschleunigungen sowie die fast metallisch wirkende Stimme von Celan selbst.

Bibliography

Biagini, Furio (2004). Il ballo proibito. Storie di ebrei e di tango, Firenze: Le Lettere.

Buck, Theo (1999). Paul Celan : Todesfuge, Aachen: Rimbaud.

Celan, Paul (2003). Die Gedichte. Kommentierte Gesamtausgabe in einem Band, kommentiert und herausgegeben von Barbara Wiedemann, Frankfurt am Main: Suhrkamp [Deutschsprachiger Erstdruck von Todesfuge in Der Sand aus den Urnen (1948), dann in Mohn und Gedächtnis (1952) enthalten].

Celan, Paul (2004). Paul Celan liest „Ich hörte sagen“. Gedichte und Prosa, München: der Hörverlag (Verlag Günther Neske 1958).

Daxelmüller, Christoph (1993). „Zum Tanz der Juden in den Tod“, in: Link, Franz, Ed. Tanz und Tod in Kunst und Literatur, Duncker & Humblot: Berlin, 587-598.

Englund, Axel (2012). Still songs: music in and around the poetry of Paul Celan, Farnham: Ashgate.

Fackler, Guido (2000). "Des Lagers Stimme". Musik im KZ ; Alltag und Häftlingskultur in den Konzentrationslagern 1933 - 1936 ; mit einer Darstellung der weiteren Entwicklung bis 1945 und einer Biblio-/Mediograpie, Ed. Temmen: Bremen.

Fackler, Guido (2003). „‚Wer das Lied nicht kannte, er wurde geprügelt’. Bedingungen, Formen und Funktionen musikalischer Aktivitäten in nationalsozialistischen Konzentrations- lagern“, in: Vokus, Volkskundlich-kulturwissenschaftliche Schriften; 13, Heft 12, 4-28. Document consultable à: http://www.kultur.uni-hamburg.de/de/vk/forschung/publikationen2

/vokus/vokus200302/media/vokus20003-2-fackler.pdf.

Felstiner, John (1997). Paul Celan: Eine Biographie, dt. Übersetzung von Holger Fliessbach, München: Beck.

Gilbert, Shirli (2005). Music in the Holocaust. Confronting Life in the Nazi Ghettos and Camps, Oxford [u.a.]: Clarendon Press.

Hess, Remi (1996). Le tango, Paris: Presses Universitaires de France.

Kittner, Alfred (1982). „Erinnerungen an den jungen Paul Celan“, in: Martin, Uwe, Ed. Texte zum frühen Celan. Bukarester Celan-Kolloquium 1981. Zeitschrift für Kulturaustausch. Stuttgart 3/1982, 217-219.

Kulisiewicz, Alexander. Lieder aus der Hölle, RBM Musikproduktion Gmbh, Bietigheim-Bissingen 1996² (1968).

Link, Franz (1993). „Tanz und Tod. Beispiele“, in: Link, Franz, Ed. Tanz und Tod in Kunst und Literatur, Duncker & Humblot: Berlin, 11-68.

Samstad, Christina (2011). Der Totentanz : Transformation und Destruktion in Dramentexten des 20. Jahrhunderts. Frankfurt am Main: Peter Lang.

Schmidt-Glintzer, Helwig (2000). Vorwort zur: Frey, Winfried, Ed. „Ihr mußt alle nach meiner Pfeife tanzen“. Totentänze vom 15. bis 20. Jahrhundert aus den Beständen der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel und der Bibliothek Otto Schäfer Schweinfurt. Wiesbaden: Harrassowitz, 7-8.

Solomon, Petre (1982). „Paul Celans Bukarester Aufenthalt“, in: Martin, Uwe, Ed. Texte zum frühen Celan : Bukarester Celan-Kolloquium 1981, Zeitschrift für Kulturaustausch, Stuttgart, 3/1982, 220-226.

Wunderlich, Uli (2001). Der Tanz in den Tod. Totentänze vom Mittelalter bis zum Gegenwart. Freiburg: Eulen Verlag.

References

Electronic reference

Aglaia Bianchi, « Tanz und Tod in Paul Celans Todesfuge », Textes et contextes [Online], 11 | 2016, 01 December 2016 and connection on 21 November 2024. Copyright : Licence CC BY 4.0. URL : http://preo.u-bourgogne.fr/textesetcontextes/index.php?id=712

Author

Aglaia Bianchi

Copyright

Licence CC BY 4.0