Einleitung
Das Vorhaben einer Untersuchung von literarischen Zirkulationsvorgängen um das Jahr 1800 herum eröffnet ein weites Feld. Die Tatsache, dass kulturelle Zirkulation gegen Ende des 18. Jahrhunderts sowohl als Begriff als auch als Vorgang eine zentrale Bedeutung einnimmt, außer Zweifel – der vorliegende Beitrag möchte in diesem Zusammenhang den Blick auf die Richtung, die Ebenen und insbesondere die Kreuzungen der Zirkulationsflüsse, d.h. des Umlaufs kultureller Inhalte lenken.
‚Kulturelle‘ Zirkulation wird hier als Oberbegriff für den Umlauf von geistigen Gehalten aller Art in bestimmten Medien gebraucht, d.h. für die Zirkulation von ‚Ideen‘ sowohl aus dem Bereich der Wissenschaft als auch der Kunst und der Literatur. Das Medium kultureller Zirkulation ist im 18. Jahrhundert im öffentlichen Bereich in der Regel die Zeitschrift (das Journal) oder das Buch, im privaten Bereich der Brief.
Grundsätzlich gilt es zu unterscheiden zwischen dem historischen, ebenso prononciert wie intensiv geführten Diskurs über ‚Zirkulation‘ sowie dem aktuellen Zirkulationsbegriff, der in der Literaturwissenschaft – häufig an der Schnittstelle zur Kultur- und Mediengeschichte – verwendet wird, wenn über Zirkulationsvorgänge im 17. und 18. Jahrhundert gesprochen wird.1 Auf beide Begriffsebenen wird im Folgenden eingegangen werden, um anschließend einige Besonderheiten literarischer Zirkulationsvorgänge um 1800 herauszuarbeiten. Es stellen sich folgende Leitfragen: Wie prägt sich kulturelle Zirkulation gegen Ende des 18. Jahrhunderts aus? Welche Besonderheiten ergeben sich aus dem zeitgenössischen literarischen Feld und welche besonderen Eigenschaften oder Leistungen resultieren daraus für literarische Zirkulationsvorgänge? Die hier verfolgte Hypothese lautet, dass kulturelle Zirkulation sich um 1800 insbesondere quer durch unterschiedliche Medien und unterschiedliche kulturelle Felder vollzog und damit, so wird hier vermutet, literarischen Entwicklungen Vorschub leistete.
Es folgt an dieser Stelle zunächst ein Überblick über den Zirkulationsbegriff, so wie er in Deutschland um das Jahr 1800 verstanden und diskutiert wurde. Anschließend werden mehrere miteinander verbundene Formen kultureller Zirkulation im Medium der Literatur bzw. des Buchdrucks identifiziert. Zuletzt wird anhand eines Textbeispiels ein literarischer Zirkulationsvorgang betrachtet, der sich sowohl auf der Ebene des physischen Umlaufs des Textes als auch auf der Ebene der von ihm transportierten Ideen abspielt.
1. ‚Zirkulation‘ um 1800
In seinen Philosophischen Fragmenten (1799)nennt Friedrich Schlegel fünf Götter des modernen Zeitalters: Industrie, Mode und Kredit sind die ersten drei (Schlegel 1963: 239/Nr. 546), „Luxus ist d[er] vierte Gott des Zeitalters; Circulation desgl[eichen]“ (Schlegel 1963: 240/Nr. 562; Hervorh. v. Schlegel). Zirkulation ist wahrlich ein Gott des Zeitalters, und zwar zunächst vor allem in staats- und wirtschaftstheoretischer Hinsicht: Historiker sprechen vom „Zirkulationstopos“ (Sandl 1999: 298f.), der die zeitgenössischen Theorien zu den Bewegungsströmen von Geld und Waren beherrscht. Ebenso geläufig ist der Begriff der Zirkulation im ausgehenden 18. Jahrhundert in der Physiologie, wo vom Umlauf der Körpersäfte die Rede ist.2 Im Bild vom Staatskörper, in dem analog zum natürlichen Körper die Waren- und Geldströme fließen und dessen Gliedmaßen als Folge nachlassender Zirkulation absterben können, findet sich das medizinische Vokabular wieder (vgl. Vogl 1997: 69). Neuere Forschungsarbeiten legen dementsprechend nahe, dass es sich beim Zirkulationsbegriff „geradezu um einen – bis dato sehr unterschätzten – Schlüsselbegriff der europäischen Aufklärung handelt“ (Stanitzek / Winkler 2006: 13).
Der Zirkulationstopos wird vielfach auch auf die Sphäre der geistigen Phänomene, der Ideen, übertragen: „In vielen Schriften ist es selbstverständlich, an die Analyse des Waren- und Geldumlaufs Betrachtungen über den Gedankenumlauf anzuknüpfen“ (Koch 2002: 57).3 Umgekehrt werden Vorstellungen von der kulturellen Zirkulation mit dem ökonomischen Kreislauf parallelisiert. Im Athenaeums-Beitrag Die Gemählde – selbst „ein kollektives Erzeugnis des Ideenumlaufs im Jenaer Zirkel“ (Koch 2002b: 167) – heißt es: „[E]s ist mit den geistigen Reichtümern wie mit dem Gelde. Was hilft es, viel zu haben und in den Kasten zu verschließen? Für die wahre Wohlhabenheit kommt alles darauf an, dass es vielfach und rasch circulirt“ (Schlegel / Schlegel 1960: 49). Der hier geäußerte Gedanke, dass kulturelles Kapital nicht einem privilegierten Kreis von Menschen in Bibliotheken, Museen und Archiven vorbehalten bleiben, sondern zum Wohle der Allgemeinheit in Umlauf gebracht soll, besitzt nicht zuletzt eine politische Dimension.
Diese Bedeutung geht auch aus einer Schrift hervor, die der Privatgelehrte Josias Ludwig Gosch 1789 – am „Vorabend der Französischen Revolution“ (Stanitzek / Winkler 2006: 23) – unter dem Titel Fragmente über den Ideenumlauf veröffentlichte.4 Gosch, 1765 in Schleswig-Holstein geboren, hatte Jura studiert und war eine „schillernde Figur“, ein Intellektueller im Zwiespalt zwischen „Intervention auf der Seite des politischen Fortschritts“ und der Notwendigkeit des Schreibens zum Lebensunterhalt; so schwankte er beständig zwischen „seriöser philosophischer Auseinandersetzung und Projektmacherei“ (Stanitzek / Winkler 2006: 7). Seine Fragmente über den Ideenumlauf sind letztlich ein politisches Manifest, gerichtet an den in Widmung und Vorrede genannten Herzog Friedrich Christian II. von Schleswig-Holstein-Sonderburg-Augustenburg. Der unterwürfige Ton täuscht nicht über den Anspruch hinweg, den Gosch erhebt: seinen Fürsten mit „grossen Wahrheiten“ (Gosch 2006: 39) belehren zu können. Viel Erfolg hatte er damit nicht; 1811 in Haft verstorben, geriet Josias Ludwig Gosch in Vergessenheit. 2006 wurden seine Fragmente über den Ideenumlauf von Georg Stanitzek und Hartmut Winkler neu herausgegeben. Beide haben auf das Potential der Schrift als „Medientheorie der Aufklärung“ und Beitrag zur Geschichte der Medienwissenschaften hingewiesen (Stanitzek / Winkler 2006: 7f.).
In seinem Text entwirft Josias Ludwig Gosch ein volkswirtschaftliches Programm, das darauf abzielt, wie die Förderung des Ideenumlaufs dem Staat nützen könne. Von seinen aufgeklärten Zeitgenossen unterscheidet er sich damit insofern, als er eben nicht die Ideen selbst, sondern deren Zirkulation zum Thema macht, „und damit die Sphäre jener ‚Kommunikation‘, die heute Gegenstand der Medienwissenschaften ist“ (Stanitzek / Winkler 2006: 8). Gosch schlägt vor, dass jeder Fürst „einige zwantzig Männer“ finanzieren solle, „die an den auf die Hervorbringung abzielenden Ideen und deren Zirkulirung arbeiten: was ihr Unterhalt den Staat kostet, ist eine Kleinigkeit, trägt hundertfältige Früchte“ (Gosch 2006: 49). Diese Gelehrten sollen sogenannte Produktionsideen, außerdem ästhetische Ideen und philosophische Ideen entwickeln. Sodann – das ist der springende Punkt in Goschs Argumentation – sollen diese Ideen in Umlauf gebracht werden, sie sollen also nicht in Forschungseinrichtungen, Bibiliotheken und Archive eingeschlossen und stillgestellt werden, sondern sie sollen durch Bücher, Gespräche und Unterricht vielen Menschen zugänglich gemacht werden – und das über die Jahrhunderte hinweg. „Nicht in den Bau von Bibliotheken muss der Souverän folglich Staatsgelder fließen lassen, sondern in die Medien der Zirkulation, in die Relais, Distributoren, Konverter und Verstärker des Ideenumlaufs“ (Siegert 2004: 68). Nur dadurch könne das wichtigste kulturelle Ziel der Aufklärung, die Vervollkommnung der Menschheit, erreicht werden:
„Vermöge der Mittheilung der Begriffe wird das menschliche Geschlecht einer fortschreitenden Vervollkommnung fähig. Durch sie kommen die Geister, welche vor Jahrtausenden schon den Erdbal verliessen in Verbindung mit den gegenwärtigen Menschen: die folgende Generation stützet sich immer auf die vorhergehende, ererbt von dieser den ganzen Schatz ihrer Begriffe, kann also fast alle Kräfte, welche sie den Ideenbearbeitungen widmet, nur dazu anwenden[,] Zusätze zu jenem Schatze zu samlen.“ (Gosch 2006 : 121)
Gosch verknüpft also den Stand des Kulturfortschritts mit der Quantität der zirkulierenden Ideen. Was ihm vorschwebt, zeigt Züge eines letztlich sehr modern anmutenden Konzepts von ‚Schwarmintelligenz‘, die im Kollektiv beständig an der Verbesserung vorhandener Ideen arbeitet – heute verwirklicht in Formaten wie der Wikipedia-Enzyklopädie oder Open-Source-Software. Eine Copyright-Problematik freilich spielte im 18. Jahrhundert noch keine Rolle.5
Albrecht Koschorke hat aus der Betrachtung der Zirkulationsvorgänge um 1800 die These abgeleitet, dass es die „Veränderung der Zirkulationsweise sozialer Energien“ (Koschorke 2003: 15) gewesen sei, die zu den großen Umwälzungen des 18. Jahrhunderts geführt habe. Laut Koschorke verlagerte sich die Zirkulation im 18. Jahrhundert aus dem Bereich der Körperflüssigkeiten, der „Körperströme“, substitutiv in den Bereich des mediengestützten geistigen Austauschs, hin zu „Schriftströmen“. Das heißt, die Zunahme kultureller Zirkulation brachte einen Bedeutungszuwachs der Medien Buch und Zeitschrift mit sich.
2. Konfliktfelder kultureller Zirkulation um 1800
Wie also prägt sich kulturelle Zirkulation gegen Ende des 18. Jahrhunderts, in der Zeit der großen Umwälzungen, in den schriftgestützten Medien aus? Zur Beantwortung dieser Frage seien als heuristisches Schema mehrere literarisch-kulturelle-mediale Konfliktfelder unterschieden, die sich um 1800 in Deutschland beobachten lassen:
A. hohe Literatur – populäre Literatur
B. romantische Literatur – klassische Literatur – Literatur der Aufklärung
C. deutsche Literatur – französische Literatur
D. öffentliche Medien – private Medien
Es handelt sich dabei um Konflikte auf vier verschiedenen Ebenen, die sicherlich auch noch um weitere Ebenen ergänzt werden könnten. Innerhalb der Ebenen sind die Stichworte jeweils als Pole bzw. Punkte eines Kontinuums zu verstehen. In der Ebene A wird ein Konflikt um den ästhetischen bzw. kulturellen Wert von Texten sichtbar, Ebene B zeigt die Auseinandersetzung zwischen zeitgleichen literarischen Gruppenbildungen an, in Ebene C geht es um den Austausch zweier Nationalliteraturen und um ihr Ringen um Vorherrschaft und Ebene D eröffnet eine Skala zwischen privaten und öffentlichen Medien, die dann konfliktbehaftet wird, wenn Briefe veröffentlicht werden oder ein Manuskript nicht veröffentlicht wird.
Es wird, betrachtet man das literarische Feld um 1800, vielfach deutlich, dass kulturelle Zirkulation in den schriftgestützten Medien Buch, Zeitschrift und Brief nicht nur innerhalb der horizontal verlaufenden Ebenen, sondern auch in vertikaler, paradigmatischer Richtung stattfand, und dass ein solcher gekreuzter Ideentransfer für viele literarische Entwicklungen besonders fruchtbar war. Man denke an die deutsche Romantik, die in den 1790er Jahren aus so zahlreichen und divergenten Ideen und Auseinandersetzungen ihren Ursprung nahm, die sich in ihrer Gesamtheit zu den Anfängen einer neuen Kulturepoche vereinten (was freilich, wie in der Literaturgeschichte wohl stets, eine nur im Nachhinein mögliche Feststellung ist): Der kaum 20jährige Ludwig Tieck verarbeitete im spätaufklärerischen Berlin französische Trivialliteratur zu Texten, die erste Merkmale einer romantischen Poetik enthielten. Aus persönlichen Zusammentreffen, Lektüren, aber auch aus unzähligen Briefwechseln der Vertreter der Frühromantik und ihrer Zeitgenossen im Umfeld von Berlin, Jena und Weimar entstanden literarische und theoretische Texte, die in Büchern und Zeitschriften veröffentlicht wurden, aber auch als Manuskripte unter Freunden und Bekannten zirkulierten, gelesen und vorgelesen wurden. Der Vergangenheitsbezug der Romantik, der schon vor 1800 aufkam, orientierte sich an kanonischen Autoren wie Shakespeare und Cervantes, aber auch an ‚altdeutscher‘ Populärkultur und volkstümlichen Mythen.
Wie ein literarischer Zirkulationsvorgang im Detail über mehrere Ebenen verlief, soll an einem Beispiel verdeutlicht werden. Dieses lässt sich allein mit dem Begriff der Intertextualität nicht angemessen verstehen, sondern es muss hier tatsächlich von Zirkulation gesprochen werden. Das liegt daran, dass Intertextualität auf textuelle, insbesondere motivische und strukturelle Relationen zwischen Texten beschränkt ist, während der hier eingesetzte Begriff der Zirkulation auch die physische Präsenz der Texte, also ihre mediale Realisierungsform als Handschrift oder Buch einschließt. Damit aber kommen die Verlage in den Blick, die diese Bücher hergestellt und vertrieben haben – und nicht zuletzt die Menschen, die sie in der Hand gehalten und tatsächlich in ihnen gelesen haben. Eben das will der von Gosch eingeführte Begriff der Ideenzirkulation erfassen: Auch für ihn wandern Ideen nicht abstrakt von Text zu Text, sondern über Medien von Mensch zu Mensch. Der Begriff der Zirkulation erhält dadurch eine soziale Komponente, er ist aufgeladen mit ‚sozialer Energie‘6. Werkmedien wie Bücher und Zeitschriften können insofern soziale Energien binden und freisetzen.
3. Beispielanalyse: Diderot und Schiller
Das gewählte Beispiel gehört in den Kontext des französisch-deutschen Austauschs und führt die Komponente einer physischen Zirkulation sinnfällig vor Augen. Es geht um den Roman Jacques le fataliste et son maître von Denis Diderot, der eine außergewöhnliche Publikationsgeschichte aufweist.7 Diderot, bekanntlich ein zentraler Vertreter der französischen Aufklärung, hat vermutlich zwischen 1765 und 1780 an Jacques le fataliste gearbeitet.8 Der Roman erschien zuerst in der ausschließlich handschriftlich verbreiteten Zeitschrift Correspondance littéraire, philosophique et critique, die, anfangs nur als Kulturbericht aus Paris an den Herzog von Sachsen-Gotha gerichtet, bald einen adligen Abonnentenkreis in ganz Europa besaß. Die Correspondance littéraire wurde zunächst von Friedrich-Melchior Grimm herausgegeben, dem Diderot eng verbunden war. Ab 1775 übernahm der Deutsche Jakob Heinrich Meister die redaktionelle Leitung. Die Zeitschrift wurde von Hand vervielfältigt und – um der Zensur zu entgehen – per Diplomatenpost an einen ausgewählten aristokratischen Leserkreis in ganz Europa verschickt. Zu den Themen der Zeitschrift gehörten Kunst, Literatur, Philosophie, Naturwissenschaften und gesellschaftliche Zusammenhänge. Da die Exemplare an die europäischen Höfe gingen und dort unter den adeligen und nichtadeligen Interessenten von Hand zu Hand wanderten, handelt es sich bei der Correspondance littéraire um ein einschlägiges Beispiel für ein Medium kultureller Zirkulation.9
Diderots Jacques le fataliste erschien von 1778 bis 1780 in der Correspondance littéraire. Auch Weimar war auf die Zeitschrift abonniert, und auch hier zirkulierten die Exemplare unter mehreren Interessenten. So las Goethe den Roman Anfang April 1780 und hielt dazu gegenüber Merck fest: „Es schleicht ein Manuscript von Diderot: Jacques le fataliste et son maitre herum, das ganz vortrefflich ist“ (Goethe 1997 : 254). Prägnant weist die Wortwahl „herumschleichen“ auf den Zirkulationsvorgang hin und spricht zugleich das politisch Gefährliche der Lektüre an, denn die Zeitschrift zirkulierte ja unzensiert unter der Hand. Goethe fährt fort, dass er den Roman in einem Zug gelesen habe. Nach ihm hätten ihn noch mehrere andere Personen teilweise gelesen und es sei darüber diskutiert worden. Friedrich Schiller, der damals dem Weimarer Hof noch fern stand, hat Jacques le fataliste wahrscheinlich erst 1784, im Todesjahr Diderots, ebenfalls in einer handschriftlichen Abschrift zur Kenntnis genommen.10 Die Lektüre regte ihn zu einer Übersetzung an, jedoch übersetzte er nicht den gesamten Roman – der mehrere Novellen durch eine Rahmenerzählung integriert –, sondern lediglich eine der Novellen: diejenige über die Rache der Marquise de la Pommeraye. Schillers Erzählung erschien als sehr freie Übersetzung des Diderotschen Textes 1785 in der Zeitschrift Rheinische Thalia unter dem Titel Merkwürdiges Beispiel einer weiblichen Rache. Zu diesem Zeitpunkt war Diderot bereits tot, und Jacques le fataliste war noch nicht gedruckt worden. Bemerkenswerterweise war dann der 1793 erschienene erste französische Teildruck eine Rückübersetzung von Schillers Erzählung, die allerdings unter dem Namen Diderots erschien (Schiller wird im Vorwort als Übersetzer genannt).11 Als ganzer ist der Roman zuerst 1792 in deutscher Sprache erschienen, und zwar unter dem Titel Jakob und sein Herr, aus Diderots ungedrucktem Nachlasse.12 Erst 1796 erschien der integrale Text in gedruckter Form als Jacques le fataliste et son maître auf Französisch in Frankreich.13
Es lässt sich hinsichtlich der Editionsgeschichte von Jacques le fataliste also wirklich von einer Kreisbewegung, von einer echten Zirkulation, sprechen.14 Das Manuskript des französischen Aufklärungsromans nimmt seinen Weg als Bestandteil einer handschriftlich vervielfältigten Zeitschrift – die als solche eigentlich ein Zwischenmedium zwischen Brief und Zeitschrift darstellt, gewissermaßen ein Serienbrief – durch ganz Europa, erreicht dort zunächst einen ausgewählten Leserkreis an den Fürstenhöfen, zirkuliert an diesen Höfen und wird schließlich vom deutschen 'Klassiker' Schiller zu einer psychologischen Novelle komprimiert, die durch die Zeitschrift Thalia wiederum im deutschen akademischen Publikum verbreitet und popularisiert wird.15 Der popularisierte Ausschnitt kehrt als Rückübersetzung nach Frankreich zurück, bevor schließlich, zwölf Jahre nach Diderots Tod, der Roman erstmals in Gänze in der Originalsprache gedruckt wird.
Die soziale Energie, die diesem Zirkulationsvorgang innewohnt, wird mehr als deutlich. Die Verbreitung von Diderots Text und der in ihm enthaltenen Ideen hängt eng damit zusammen, auf welche Art und Weise hier tatsächlich ein Manuskript von Hand zu Hand ging und wem es ‚in die Hände fiel‘. Schillers popularisierter Auszug nimmt wiederum als gedrucktes Buch seinen Weg ins Nachbarland; dass er auf dem Titel nicht als Autor genannt wird und im Vorwort von einer „exacte traduction de M. Schiller“ die Rede ist (Diderot 1793: 3-4), kann ein Hinweis darauf sein, dass hier Diderots größere Popularität im französischsprachigen Raum den Absatz befördern sollte und dass die ‚Idee‘, trotz Schillers sehr freier Bearbeitung, eindeutig Diderot zugeschrieben wurde.
1792, als Jacques le fataliste auf dem deutschen, und 1796, als der Roman auf dem französischen Buchmarkt erscheint, neigt sich die Aufklärung, der der Text entstammt, allmählich dem Ende zu. Konkurrierende Tendenzen bestimmen in beiden Ländern den Buchmarkt. Das Kernthema des Romans, der Widerspruch zwischen Determination und Willensfreiheit, wird daher in Texten der Klassik und der Romantik weiter verhandelt, so dass diese Idee über die Epochengrenzen hinweg zirkuliert – ganz im Sinne von Josias Ludwig Gosch.
Je voudrais remercier Mariannick LABROUSSE et Peter DAWSON pour les traductions.