Als Spezialist für Migrationen in Europa und Flüchtlings- und Vertriebenenprobleme in der deutschen Nachkriegsgeschichte hat Mathias Beer schon zahlreiche Studien zum Thema Flucht und Vertreibung veröffentlicht. Mit seinem neuen Buch will er ganz speziell auf bestimmte Themen zurückkommen: „Voraussetzungen, Verlauf und Folgen“ werden im Untertitel genannt. Pointiert bemerkt Beer einleitend, dass diese Themen in der letzten Zeit weniger an und für sich analysiert wurden, und dass sich stattdessen „in der gegenwärtigen medialen Konjunktur“ (Seite 22) die Aufmerksamkeit eher auf den Umgang mit ihnen konzentrierte. Mit einer Analyse aller Bedeutungsfelder will Beer verhindern, dass „Flucht und Vertreibung“ zu einem politisch instrumentalisierten Schlagwort verkommt.
Die Veröffentlichung in der Beck’schen Reihe vom Münchner C.H. Beck Verlag zeugt auch von der Absicht, ein breiteres Publikum jenseits des traditionellen wissenschaftlichen Leserkreises erreichen zu wollen. Dies schließt dennoch keine ausgewählte Bibliographie aus, die mit 13 Seiten die bedeutsamsten Studien zu diesem Thema mit Schwerpunkt auf die zuletzt veröffentlichten umfasst.
Die ersten Seiten geben dem Leser einen ersten Eindruck von dem, was ihn im 200-seitigen Buch erwartet, nämlich einer Darstellung von Flucht und Vertreibung nach dem Zweiten Weltkrieg in all ihren Erscheinungsformen. Denn Beer ist bemüht, den Komplex in all seinen Dimensionen zu zeigen und keineswegs auf die Erfahrung der Deutschen aus dem Osten zu begrenzen. Die vielen fiktiven Beispiele veranschaulichen die verschiedenen Formen von Vertreibung. „Hinter der Chiffre ‚Flucht und Vertreibung‘ verbirgt sich zweitens eine große Formenvielfalt an Bevölkerungsbewegungen und kriegsbedingten Migrationen“ (Seite 13).
Im Kapitel über die Literatur „von, für und über Vertriebene“ (ab Seite 23) macht Beer einen Überblick über die Forschungsbereiche, mit denen Wissenschaftler sich schon intensiv befasst haben. Somit wird erneut der Mythos eines Tabus exemplarisch widerlegt. Im folgenden Kapitel nennt Beer drei Voraussetzungen für Flucht und Vertreibung: 1) Seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert streben „alle Nationen danach, einen Nationalstaat zu bilden, das Staatsterritorium und das Staatsvolk in Einklang zu bringen“ (Seite 34), was das Zusammenleben einer Nation mit ethnischen Minderheiten problematisch werden lässt. 2) Die nationalsozialistische Besatzungs-, Umsiedlungs- und Vernichtungspolitik hatte den Anstoß für das „gewaltsame Verschieben von Grenzen und Menschen in Europa“ (Seite 38) gegeben. 3) Den „Großmachtinteressen“ (Seite 48) der UdSSR kam die Westverschiebung Polens wie ein Segen. Der UdSSR allein wird nicht die Schuld am Potsdamer Protokoll zugeschoben. Beer bringt die Genese der Aussiedlungspläne ans Licht. Dabei wird klar, dass der Nationalsozialismus allein Flucht und Vertreibung nicht erklären kann. Der Präsident der tschechoslowakischen Exilregierung Edvard Beneš im Jahre 1938, der polnische Außenminister im Jahre 1940, britische Wissenschaftler im Mai 1940, Stalin und der britische Außenminister im Dezember 1941, Winston Churchill im Jahre 1943, all diese Persönlichkeiten haben lange vor den Potsdamer Beschlüssen einem Bevölkerungsaustausch zugestimmt. Da aber der Nationalsozialismus einen wesentlichen Anteil an der Umsetzung dieses Vorhabens hat, wiederholt Beer, dass das nationalsozialistische Deutschland die Grundvoraussetzungen für Flucht und Vertreibung darstellt. So bekannt diese Tatsache auch sein mag, Beer wiederholt es dreimal: das nationalsozialistische Deutschland entfachte den Zweiten Weltkrieg (Seiten 8, 38 und 67). An dieser Stelle sei vermerkt: wer das beim Thema Flucht und Vertreibung nicht nachdrücklich betonen würde, würde sich offenbar des Verdachts des Revisionismus stellen. Dennoch hätte sich Beer die dreifache Wiederholung ersparen können, zumol sein Buch sich durch seinen sachlichen Inhalt aus zeichnet.
Bei der Darstellung des Verlaufs unterscheidet Beer zwischen den Ostgebieten des deutschen Reiches und Polen einerseits, der Tschechoslowakei anderseits und Südosteuropa. Beer erwähnt das Massaker in Nemmersdorf als Auftakt der steigernden Gewaltaktionen gegen die Zivilbevölkerung. Zwar wird hinzugefügt, dass Goebbels den Tod der Zivilisten für die NS-Propaganda nutzte, aber die kritischen Bemerkungen von Eva Hahn und Hans Henning Hahn (deren Buch1 in der Bibliographie anderswo erscheint) über den tatsächlichen Stand der historischen Kenntnisse wären erwähnenswert gewesen.
Im vorletzten Kapitel beschäftigt sich der Autor mit einem Thema, das Andreas Kossert2 ins Bewusstsein der öffentlichen Meinung rücken ließ, nämlich der Aufnahme der Vertriebenen in der Bundesrepublik. Das in den Ausstellungen der vom BdV initiierten Stiftung Zentrum gegen Vertreibungen („Angekommen“) und der Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland („Flucht, Vertreibung, Integration“) gezeigte Bild eines Fastnachtsumzugs in Lahr (Seite 127), wo die Vertriebenen als schrecklichsten Schreck Badens angeprangert werden, fehlt auch hier nicht. Indem Beer sich auf die vielen Monographien über das Thema stützt, fasst er meisterhaft die Schwierigkeiten zusammen, die die Vertriebenen überwinden mussten. Mit der Erwähnung einer Flüchtlingsfrau, die mit ihren Angehörigen aus einem Bauernhof verwiesen wurde, weil sie eine Hexe sei und die Tiere krank mache, wird deutlich, wie schwierig die damaligen Lebensverhältnisse gewesen sein sollen, um solche irrationellen Reaktionen hervorzurufen (Seite 109).
Viel lehrreicher ist das Lesen des letzten Kapitels. „Flucht und Vertreibung als Erinnerungsort“ (Seite 135) kommt zwar bekannt vor, aber die Analyse der bundesdeutschen Debatten wirft ein neues Licht auf den Umgang der Politiker aller Couleur mit dem Thema. Beer vergleicht nämlich die erste Regierungserklärung Adenauers, eine Anfrage des Abgeordneten Heinrich Windelen (CDU) aus dem Jahre 1975 (hier wäre die Bemerkung angebracht gewesen, dass Windelen Monate zuvor kurzeitig Bundesminister für Vertriebene war), die Ansprache zum Antrag „Für ein europäisches Zentrum gegen Vertreibungen“ vom Juli 2002 und die Debatte bei der Verabschiedung des Gesetzes im Dezember 2008. Daraus ergibt sich eine aussagekräftige Entwicklung der politischen Instrumentalisierung des Themas. Trotz der 2008 noch lebhaften polarisierten Auseinandersetzungen „ist der eingetretene Wandel unübersehbar“ (Seite 155). Die politische Polarisierung hat jahrelang den Umgang mit Flucht und Vertreibung stark geprägt, aber die gewählten Quellen zeigen dennoch deutlich, dass das Thema nun zum kulturellen Gedächtnis der Deutschen gehört. „Die Debatten über ‚Flucht und Vertreibung‘ erweisen sich bei näherem Betrachten als ein geschichtspolitisches Handlungsfeld, dessen Akteure nicht primär an der Geschichte dieses historischen Phänomens interessiert sind, nicht an der jeweils individuellen Lebensgeschichte und auch nicht an den Ergebnissen der historischen Forschung, sondern daran, den ‚Komplex Vertreibung‘ als Argument in der politischen Auseinandersetzung einzusetzen“ (Seite 160). Dieser Schluss allein macht Flucht und Vertreibung der Deutschen lesenswert und trägt zum besseren Verständnis der öffentlichen Kontroversen zwischen dem BdV von Erika Steinbach und den politischen Parteien seit einigen Jahren bei.