1. Anachronismen
Von einer Ausstellungskopie, die nicht Teil eines künstlerischen Konzepts, sondern eine Nachbildung von etwas einstmals Vorhandenem ist, geht das Versprechen aus, ein verloren gegangenes Kunstwerk, ein Zeugnis der Vergangenheit, könne in die Gegenwart zurückkehren, sofern Größendimensionen, Materialität und Machart der Rekonstruktion in etwa mit der Urfassung übereinstimmten. Eine solche Ausstellungskopie – hier verstanden als eine nachträgliche Kopie, die nicht aus konzeptuellen Gründen von den Urheber*innen, sondern im Auftrag von Institutionen, zumeist Museen, als Ersatz für ein absentes Kunstwerk angefertigt wird (vgl. Tate Papers 2007) – lässt sich als anachronistische Erscheinung betrachten, wie im Folgenden zu zeigen sein wird. Anachronismen setzen mindestens zwei voneinander verschiedene Zeitpunkte voraus. Zwischen diesen Zeitpunkten – so die Literaturwissenschaftlerin Miriam Lay Brander – „klafft eine zeitliche Distanz, die eine Berührung der [...] Punkte verhindert. Der Anachronismus besteht nun darin, dass diese [...] Zeitpunkte künstlich zusammengeführt werden“ (Brander 2011: 13).
Den Anachronismus nicht als Fehler in der Chronologie, nicht als unerlaubtes Ausscheren aus der linearen Zeit abzuqualifizieren, sondern als mehrschichtige Zeiterfahrung – im Sinne der Zusammenführung der von Augustinus voneinander unterschiedenen Gegenwart von Vergangenem, Gegenwart von Gegenwärtigem und Gegenwart von Künftigem (Augustinus 2007: 281) – , ja als ein produktives Geschichtsmodell zu denken, ist Motivation dieser Untersuchung. Ich verwende den Begriff daher in dem Sinne, in dem der Kunsthistoriker Georges Didi-Huberman ihn eingeführt hat, um ein Denk- und Handlungsmodell zu entwerfen, das es erlaubt, aus der starren Chronologie eines Vorher und Nachher auszubrechen. Didi-Huberman spricht explizit dem Abdruck, wozu er auch den Abguss zählt, aufgrund seiner Indexikalität das Potenzial zu, „das Gewesene für den Anachronismus von Gegenständen zu öffnen, welche die Kunstgeschichte unbeachtet gelassen hat“ (Didi-Huberman 1999: 13). Der Abdruck, so Didi-Huberman, basiere auf einem Verfahren der Reproduktion, sei mithin nicht das Ergebnis einer schöpferischen Nachahmung, einer imitazione, die immer auch einen Funken invenzione enthalte, sondern das Resultat einer „handwerklichen Nicht-Erfindung“ (Didi-Huberman 1999: 13). Der Abdruck sei – dem traditionellen kunsthistorischen Verständnis nach – ein „Nicht-Werk“ (Didi-Huberman 1999: 9), da er Vorhandenes reproduziere, statt Neues zu erschaffen; er konstituiere sich über den Verlust eines Ursprungs.
All dies trifft gleichermaßen auf die in Museen präsentierten materiellen Rekonstruktionen von zerstörten oder verschollenen Kunstwerken zu. Um mich ihren miteinander verschränkten Zeitebenen widmen zu können, möchte ich im Folgenden weniger den Anspruch auf Authentizität von Ausstellungskopien reflektieren oder Konservierungsproblematiken diskutieren (Fayet/Krähenbühl 2018; Matyssek 2010) als vielmehr „den Geistern des Nachlebens verschwundener Bilder“ (Boucheron 2017: 33) nachgehen. Vorrangig stellen sich zwei Fragen: Welchen Werkstatus nimmt ein materieller „Abdruck“ von etwas an, das nicht mehr existiert, aber Nachbilder im kollektiven Gedächtnis hinterlassen hat? Und auf welchen Zeitebenen ist ein Konstrukt anzusiedeln, das sowohl der Vergangenheit als auch der Gegenwart angehört und das geschaffen wurde, um durch den Anschein seiner Reproduzierbarkeit über seine tatsächliche Abwesenheit hinwegzutäuschen?1
Am Beispiel unterschiedlicher Rekonstruktionen des von Beginn an auf Dauer angelegten Kabinetts der Abstrakten, das Alexander Dorner als Leiter der Kunstabteilung des Provinzial-Museums Hannover im Herbst 1926 bei dem russischen Architekten, Gestalter und Künstler El Lissitzky in Auftrag gegeben hat und das 1937 im Zuge der Beschlagnahmungsaktionen für die nationalsozialistische Propagandaausstellung „Entartete Kunst“ zerstört wurde, möchte ich vor Augen führen, dass Ausstellungskopien als räumlich erfahrbare Anachronismen zu deuten sind. Sie erzählen von einer Vergangenheit, die einst ein Bild der Zukunft entworfen hat, aber auch von einer Gegenwart, die – ihren jeweiligen Interessen folgend – partiell an die Vergangenheit anknüpft.2 Über die Widerständigkeit ihrer materiellen Existenz zeugen sie von einem mit Missverständnissen, Gewalt und gesellschaftlichen Umbrüchen verbundenen Verschwinden des Kabinetts der Abstrakten, aber ebenso von seiner mehrfachen Wiederkehr, die jeweils unter bestimmten ästhetischen, gesellschaftspolitischen und epistemologischen Voraussetzungen stattgefunden hat.
Vorausgeschickt sei, dass das Kabinett der Abstrakten sich wesentlich besser zur Rekonstruktion eignet als Kunstwerke, die um ihrer Einzigartigkeit und ihres händischen Herstellungsprozesses willen wertgeschätzt werden. So kommt Isabel Schulz, die derzeit für El Lissitzky zuständige Kuratorin im Sprengel Museum Hannover, zu dem Schluss: „Würde es sich dabei um ein ursprünglich von ihm selbst gefertigtes Gemälde und nicht um ein von Handwerkern nach seinen Entwürfen gebautes Ausstellungsdisplay handeln, hätte man sicherlich größere Skrupel, eine Rekonstruktion dieses Werks auszustellen“ (Schulz 2016: 38). Umso bemerkenswerter ist es, dass selbst ein modular konzipierter Ausstellungsraum wie das Kabinett der Abstrakten, der von Beginn an auf Reproduzierbarkeit angelegt war und dem Originalbegriff kritisch gegenüberstand, nicht ohne Verschiebungen, Umdeutungen und implizite gegenwartsbezogene Botschaften wiederholt werden kann, sondern zu verschiedenen Zeiten different Gestalt annimmt und andere Kontexte aufruft. Bevor die drei Rekonstruktionen des Kabinetts der Abstrakten in Hannover im Hinblick auf ihre künstliche Zusammenführung von verschiedenen Zeitpunkten miteinander verglichen werden, soll zunächst das realiter unwiederbringliche kulturpolitische Klima zur Sprache kommen, das in der Weimarer Republik herrschte und damals die Voraussetzung dafür darstellte, als dieser explizit moderne Ausstellungsraum namens Kabinett der Abstrakten 1927 in der Gemäldegalerie des Provinzial-Museums Hannover eingerichtet wurde.
2. Das Konzept Volksbildung
Schon seit Ende des 19. Jahrhunderts hatte es im Deutschen Reich von Parteien, Vereinen oder kirchlichen Institutionen getragene Initiativen gegeben, um der wachsenden Schicht der großstädtischen Industriearbeiterschaft durch Leihbibliotheken, Lesehallen und Vortragsprogramme – etwa der Humboldt-Akademie – Zugang zu den Debatten in Wissenschaft, Literatur und Kunst zu eröffnen. Diese Aktivitäten gingen zumeist, wie etwa bei Alfred Lichtwark, dem ersten Direktor der Hamburger Kunsthalle, mit ausgeprägtem patriotischem Denken einher. Viele dieser lokal wirksamen Institutionen setzten ihre Arbeit auch nach der Novemberrevolution von 1918 fort, allerdings unter veränderten politischen Vorzeichen. Die Weimarer Republik, mit der der Erste Weltkrieg und die konstitutionelle Monarchie der deutschen Kaiserzeit ihr Ende fanden, war nicht nur geprägt von sozialen Reformen wie dem Frauenwahlrecht, der Einführung einer Sozialfürsorge oder medialen Neuerungen wie den Filmaufführungen der UFA und den Sendungen des Rundfunks. Nach der Novemberrevolution gab es auch eine bildungspolitische Neuausrichtung: die sogenannte „Volksbildung“ wurde zu einer zentralen staatlichen Aufgabe. Denn Bildung schien in der Weimarer Republik das beste Mittel zu sein, die durch Klassen- und Interessengegensätze zerrissene Nation zu einen. Volksbildung richtete sich daher nicht nur an Arbeiter*innen und Unterprivilegierte, sondern an die gesamte Bevölkerung. Teilhabe am „Schrifttum, an der Kunst, an der Wissenschaft“, so notierte der einflussreiche Pädagoge Johannes Tews 1921, sei „das Band, das das Volk aus einer verbindungslosen Masse zu einem durch lebendige Kräfte bewegenden Ganzen macht“ (Zeising 2018: 51). Entsprechend wurden nicht nur die Freiheit von Kunst, Wissenschaft und Lehre, sondern auch das Ziel der Volksbildung in der Weimarer Verfassung verankert. In Artikel 148 hieß es: „Das Volksbildungswesen, einschließlich der Volkshochschulen, soll von Reich, Ländern und Gemeinden gefördert werden“ (Reichs-Gesetzblatt 1919: 1411).
Eben dieser kulturpolitischen Programmatik fühlte sich Alexander Dorner verpflichtet. Dorner, ein Veteran des Ersten Weltkriegs, hatte in Berlin Kunstgeschichte studiert und war im Mai 1919 mit einer Schrift zur romanischen Kunst promoviert worden. Im Anschluss an eine Habilitation zur romanischen Bauornamentik wurde er zum Leiter der Gemäldegalerie des Provinzial-Museums Hannover ernannt. Damit war er, gerade 36 Jahre alt, einer der jüngsten Museumsdirektoren Europas, und er agierte mit Unterstützung progressiver Kräfte in Hannover, damals einem Zentrum der europäischen Avantgarde-Kunst. Als Museumsleiter realisierte er gemeinsam mit El Lissitzky, der sich selbst – überzeugt davon, bei der Errichtung einer neuen Gesellschaft eine wichtige Rolle zu spielen – mit Bedacht nicht Künstler, sondern Konstrukteur nannte, um seine Nähe zur industriellen Produktion zu betonen, das Kabinett der Abstrakten. Das Provinzial-Museum, das ein Naturkunde-, ein Archäologie- und ein Kunstmuseum unter einem Dach vereinte, existierte bei Dorners Amtsantritt bereits seit 70 Jahren; es verdankte seine Gründung einer bürgerlichen Initiative und wurde von ortsansässigen Unternehmern finanziell getragen. Die Kunstsammlung war nach Leihgebern geordnet und wurde von El Lissitzky spöttisch mit einem Zoo verglichen, „wo die Besucher gleichzeitig von tausend verschiedenen Bestien angebrüllt werden“ (Helms 1968: 11).
3. Das Denken mit der Hand
Dorners Vorstellung von einem zeitgemäßen Kunstmuseum stand im Einklang mit der Bildungspolitik der Weimarer Republik (vgl. Flacke-Knoch 1985). So notierte er 1924: „Ein Kunstmuseum ist in erster Linie ein Erziehungsinstitut der großen Masse des Publikums […]. Als Erziehungsinstitut aber muß das Museum unter allen Umständen aus seiner passiven Funktion heraustreten“ (Helms 1968: 12). Um eine Dynamisierung der Institution und eine Aktivierung der Besucher*innen zu bewirken, begann Dorner, kaum im Amt, damit, eine neue Gemäldegalerie zu planen. 1927 war es dann so weit: Eröffnet wurde ein reformiertes Kunstmuseum, das seine Bestände, ergänzt um Leihgaben aus der Sammlung Herbert von Garvens, chronologisch geordnet in farblich ausgewogenen Stimmungsräumen vorführte. „In the newly arranged rooms visitors followed a chronologically specified path through art history. Dorner created the so-called ‘atmosphere room,’ less with the intention of imitating a particular art period and more with the objective to convey a sense of living. He attempted to demonstrate the connection between different periods by having the rooms painted in different colors: medieval art was mounted on dark walls to reflect the atmosphere of medieval churches; baroque rooms contained red velvet, and the walls in the rococo rooms were painted in yellow-gray. While the floors mainly remained neutral, appropriate furnishings and seating were added to further enhance the atmosphere of a particular era. Elaborate scripts were available everywhere, but they were displayed in a non-intrusive manner. Dorner’s notes from those times show that the idea of disseminating information via ear phones and speakers did not develop first in Providence, but, rather, in Hanover, though its technical implementation, unfortunately, failed” (Katenhusen 2002: 4).3 Die atmosphärisch aufgeladene, multisensuell erfahrbare Sammlungspräsentation entsprach Dorners Sicht auf die Kunst bzw. auf die Kunstgeschichte. Sie adressierte ein Publikum, das über Farbwirkungen, Stimmungen und sprachbasierte Anleitungen an die Kunst herangeführt werden wollte, und setzte zur Kunstvermittlung allerneuste Techniken und Medien ein.
Damit nicht genug. Dorner engagierte sich nicht nur – wie viele seiner Zeitgenossen, darunter Ludwig Justi, Hans Posse, Max Sauerlandt und Ernst Gosebruch – für eine lineare Hängung der Gemälde auf Augenhöhe (vgl. Klonk 2008) sowie für den Impressionismus und den Expressionismus, sondern vor allem für das, was er als „abstrakte Malerei“ bezeichnete. Darunter verstand Dorner eine Kunst, die „einen neuen Bildaufbau“ anstrebt, „der über den perspektivisch geordneten, bühnenbildartigen Aufbau hinausgeht“ (Dorner 1927: 12). Aus Dorners Sicht hatte die „abstrakte Malerei“ die auf einen Fluchtpunkt angelegte Zentralperspektive – und damit das wissenschaftliche Weltbild der Neuzeit, ihre Mathematik, Geometrie und Kosmologie4 – hinter sich gelassen und trug durch eine Irritation tradierter Wahrnehmungsgewohnheiten zu einer Transformation der Weltanschauung und des Denkens des ‚neuen Menschen‘ zu Beginn des 20. Jahrhunderts bei (Lepp/Roth/Vogel 1999; Gerstner/Könczol/Nentwig 2006). Dass die Verabschiedung vom „perspektivisch geordneten, bühnenbildartigen Aufbau“ nicht an der Schwelle des Bildrahmens Halt machen durfte, sondern nach alternativen Ausstellungskonzepten verlangte, ist Dorner früh klar geworden. Seine Überlegungen zu diesem Thema publizierte er 1928 unter der Überschrift „Zur Abstrakten Malerei. Erklärung zum Raum der Abstrakten in der Hannoverschen Gemäldegalerie“. Darin heißt es: „Der Sinn der abstrakten Kunstbewegung liegt in ihrem Bestreben, über den bisherigen Bildaufbau hinaus in eine neue unbekannte Welt der Vorstellungen von Raum und Körper tastend vorzudringen“ (Dorner 1928: 110). Programmatisch wird hier also nicht – wie in damaligen Kunstmuseen üblich – hauptsächlich der auf Distanzierung und Disziplinierung abzielende Sehsinn (Bennett 1995) priorisiert, sondern ein erweiterter Bezug auf Raum und Körper in Aussicht gestellt und nicht zuletzt der subordinierte Tastsinn angesprochen, ja metaphorisch auf das Denken mit der Hand angespielt, das vom bildungsbürgerlichen Habitus abweicht.
4. Demonstrationsräume
Doch der Reihe nach. Nachdem Dorner im Juni 1926 El Lissitzkys Raum für konstruktive Kunst in Dresden gesehen hatte, wandte er sich im Herbst 1926 an den glühenden Verfechter der Idee des „Neuen sowjetischen Menschen“, mit der Bitte, seinem Museumstrakt ein ähnlich zeitgenössisches Ausstellungsdisplay hinzuzufügen (Krempel 2015: 115). Am Ende ihres Rundgangs durch die Stimmungsräume der Gemäldegalerie in Hannover sollten die Museumsbesucher*innen im Raum 45 aus der chronologisch geordneten Vergangenheit heraustreten und ihrer eigenen, von simultan wahrnehmbaren Ereignissen und Medien wie Zeitschriften, Fotografie und Film geprägten Gegenwart begegnen. So erhielt El Lissitzky die Gelegenheit, in Hannover mit Unterstützung seiner Ehefrau, der ortsansässigen Galeristin, Kunstsammlerin und Leihgeberin Sophie Küppers, einen seiner sogenannten „Demonstrationsräume“ einzurichten. Seine Absicht war es, gegen das Überkommene zu demonstrieren – im politischen Sinne –, und überdies sein Publikum in einer Art von Projektionsraum, analog zu den damaligen Wochenschauen in den Kinos (Buchloh 1984: 106), visuell zu überzeugen.5 Zugleich wollte er den Beweis antreten, dass es möglich war, den gesamten Ausstellungsraum in eine Bühne zu verwandeln, auf der, wie er Sophie Küppers in einem Brief wissen ließ, die Kunstwerke zu Akteuren in einem Drama oder in einer Komödie werden konnten.6 Wir haben es beim Kabinett der Abstrakten demnach mit einem Demonstrationsraum im mehrfachen Wortsinn zu tun (vgl. Anda/Bialek/Durka u.a. 2016).
Die Museumsbesucher*innen wurden, um es mit heutigen Begriffen der Kunstwissenschaft und Kunstvermittlung auszudrücken, nicht als Empfänger*innen tradierter Narrative der Kunstgeschichte angesprochen. Sie konnten sich vielmehr im Ausstellungsraum als Mitakteur*innen, ja als Kompliz*innen der progressiven Künstler*innen und Museumskonservator*innen der ,Neuen Zeit‘ produktiv betätigen. Durchkreuzt wurde auf diese Weise die Vorstellung, der künstlerische Werkprozess, aber auch die kuratorische Praxis zeichneten sich durch eine besondere Fähigkeit, durch ein von höheren Mächten verliehenes oder ererbtes Talent zur Komposition von Farbe, Form und Materialien aus. Unterschiedslos durften sich Museumsbesucher*innen – unabhängig von ihrer ästhetischen Kompetenz, ihrer Herkunft und ihrem Bildungsniveau – aufgefordert fühlen, im Ausstellungsraum temporäre Konstellationen aus einem von der Institution bereit gestellten Konvolut von Kunstwerken zu bilden. Zu diesem Zweck setzte El Lissitzky ein variables Ausstellungsdisplay ein, indem er die Wände mit schwarz-weißen Lamellen aus Nirosta-Stahl verkleidete und verschiebbare Kassetten montierte. „Vor den Kassetten laufen auf Schienen schwarze Tafeln, ursprünglich als gelochte Eisenjalousien geplant, jetzt aber geschlossene Masken, die jeweils eines der übereinander angeordneten Bilder vollständig verdecken. Der Betrachter ist aufgefordert, diese Tafeln zu verschieben. Er darf und soll Bilder verdecken und freilegen, darf sich selbst ‚ein Bild machen’ von dem, was sich seinem Auge darbietet“ (Nobis 1991: 78/79).
5. Die dynamischen Bestandteile des ‚modernen‘ Lebens
Hinzu kommt, dass im Kontext des russischen Konstruktivismus bzw. des Produktivismus sowohl der an bürgerlicher Individualität haftende Wert der Eigenhändigkeit als auch der Originalbegriff in der Kunst als reaktionär eingestuft und demzufolge abgelehnt wurden. Als ausgebildeter Architekt, als Plakatgestalter sowie als Typograf war es für El Lissitzky, der mit Hilfe der Propaganda Volksmassen anzusprechen wusste, ein logischer Schritt, keine Einzelwerke, sondern Messehallen und Ausstellungsräume zu entwerfen (Buchloh 1984: 101/102) und dabei in Kategorien technischer Reproduzierbarkeit zu denken. Daher beabsichtigte er, „Standards aufzustellen für Räume, in denen der Allgemeinheit neue Kunst gezeigt wird“ (El Lissitzky 1966a). Analog zu den Modellen der Typisierung und Standardisierung im Wohnungsbau, die er in den Niederlanden in Augenschein genommen hatte, schwebte ihm ein transportabler, an verschiedenen Orten einsetzbarer, aus modularen Bestandteilen zusammengefügter Ausstellungsraum vor, der seine Funktion – die Allgemeinheit an die ‚neue’, sozial wirksame Kunst heranzuführen – optimal zu erfüllen imstande war (Klonk 2008: 116-120).
Konsequenterweise delegierte er die Umsetzung seiner Entwürfe an den Museumsdirektor und dessen Mitarbeiter*innen,7 was in der Folge dazu führte, dass die Strategien von Autorschaft beziehungsweise die Machtverhältnisse innerhalb des Kooperationsmodells von El Lissitzky und Alexander Dorner bis heute in der kunsthistorischen Forschung umstritten sind.8 El Lissitzky war nicht zugegen, als das Kabinett der Abstrakten im Zuge der Neueröffnung des Hauses im Oktober 1927 im Provinzial-Museum Hannover eingeweiht wurde. Dennoch maß er seinem Demonstrationsraum großen Wert bei. Dafür spricht die Erwähnung in seiner Autobiographie aus dem Jahr 1941: „1926 beginnt meine wichtigste künstlerische Arbeit, die Gestaltung von Ausstellungen. In diesem Jahre wurde ich vom Komitee der Internationalen Kunstausstellung in Dresden aufgefordert, den Raum der Gegenstandslosen Kunst zu gestalten, und von ‚Woks‘ (der Verbindungsstelle mit dem Ausland) dorthin kommandiert. Nach einer Studienreise, die die neue Siedlungsarchitektur in Holland zum Gegenstand hatte, kehrte ich im Herbst nach Moskau zurück. 1927 Typographische Ausstellung in Moskau. Entwurf für den ‚Raum der Abstrakten‘ im Landesmuseum zu Hannover, im Auftrag von Dr. Dorner“ (El Lissitzky 1966b).
Nicht zu bestreiten ist, dass in Hannover im Einklang mit dem staatlichen Auftrag zur Volksbildung in der Weimarer Republik und angefacht von den Ideen der Russischen Revolution ein Ausstellungsraum für die damalige Gegenwartskunst realisiert wurde,9 der gängige museale Präsentationsprinzipien in Frage stellte, Grenzen zwischen Gattungen und Medien negierte, Kunstwerke aus dem Schema nationaler Zugehörigkeit herauslöste und die Chronologie der traditionellen Kunstgeschichtsschreibung außer Kraft setzte, indem er Simultaneität als Wahrnehmungsmodus einführte. Beispielhaft wurden die präsentierten Werke weder nach Herkunftsregionen noch nach Eigentumsverhältnissen angeordnet. Das Display simulierte auch nicht – wie dies Wilhelm Bode im Kaiser Friedrich-Museum in Berlin erprobt hatte – die Atmosphäre der mit Kunstgegenständen ausgestatteten Interieurs von großbürgerlichen Privatsammler*innen. Stattdessen wurden die Kunstwerke im Ausstellungsraum, umgeben von Drehvitrinen, in denen in Reproduktionsverfahren hergestellte Plakate, Zeitschriften, Broschüren, Architektur- und Modefotografien mit Hilfe einer Kurbel wie bei einer laterna magica und damit gleichsam filmisch in Bewegung versetzt werden konnten, als flexible, aufeinander Bezug nehmende, dynamische Bestandteile eines universellen ‚modernen Lebens‘ inszeniert.
Auf diese Weise wurden im Kabinett der Abstrakten selbsttätige, medienaffine, ,moderne‘ Mitbürger*innen adressiert, die im Raum der Kunst nicht nur zur Reflexion, sondern auch zur Aktion befähigt werden sollten. Was Walter Benjamin 1935/36 während seines Pariser Exils in seinem Aufsatz Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit scharfsinnig schlussfolgerte, liest sich nachträglich wie eine Gebrauchsanweisung für El Lissitzkys Demonstrationsraum aus dem Jahr 1927: „Die Aufgaben, welche in geschichtlichen Wendezeiten dem menschlichen Wahrnehmungsapparat gestellt werden, sind auf dem Wege der bloßen Optik, also der Kontemplation, gar nicht zu lösen. Sie werden allmählich nach Anleitung der taktilen Rezeption, durch Gewöhnung, bewältigt“ (Benjamin 1980: 505). Das Kabinett der Abstrakten in Hannover war also weit mehr als ein künstlerisch-kuratorisches Experiment im Rahmen einer musealen Sammlungspräsentation. Modellhaft wurde den Bürger*innen der Weimarer Republik vielmehr ein Erfahrungsraum, Maria Gough spricht sogar mehrfach von einem Ort der Desorientierung (Gough 2003), offeriert, der es erlaubte, sich als ,moderner Mensch‘ aktiv zu ,moderner Kunst‘ in Beziehung zu setzen und die medialen Voraussetzungen der eigenen Wahrnehmung zu reflektieren.
Zu betonen ist, dass der Demonstrationsraum in Hannover gerade nicht darauf abzielte, die präsentierten Kunstwerke – darunter Grafiken, Zeichnungen, Gemälde und Skulpturen von Alexander Archipenko, Willi Baumeister, Carl Buchheister, Walter Dexel, Naum Gabo, Albert Gleizes, Juan Gris, Fernand Léger, Laszlo Moholy-Nagy, Piet Mondrian, Francis Picabia, Pablo Picasso, Oskar Schlemmer, Kurt Schwitters und Friedrich Vordemberge-Gildewart neben El Lissitzkys eigenen Bildproduktionen – als wertvolle Einzelwerke ideal zur Geltung zu bringen. Das kuratorische Konzept sah vielmehr ein Rotationsprinzip vor: Die Gemälde und Papierarbeiten sollten im Abstand von mehreren Monaten ausgewechselt werden; dadurch konnten die ins Museumsdepot ausgelagerten Bestände nach und nach gezeigt, aber auch künftige Werke integriert werden.
6. Die sich in drei temporalen Dimensionen differenzierende ‚Zeitlichkeit‘
Nicht nur die räumliche Situation definierte sich über Variabilität; auch der Zeitbegriff, der sich mit dem Kabinett der Abstrakten verband, konterkarierte den traditionellen musealen Anspruch auf Beständigkeit. Den beweglichen, in einem geschlossenen Kabinett in wechselnden Konstellationen umeinander kreisenden Kunstwerken wurde kein fester Platz in einer von der Kunstgeschichte vorgegebenen Chronologie zugewiesen. Von der Last des Ewigkeitswerts und dem Versprechen der Dauerhaftigkeit befreit, traten die Kunstwerke stattdessen demonstrativ aus der in den anderen Sälen zur Schau gestellten sukzessiven, gleichförmig dahinfließenden Zeit aus. Dadurch waren sie für die Betrachter*innen in einem konkreten Augenblick wahrnehmbar. Nach Søren Kierkegaard zeichnet sich der Augenblick dadurch aus, dass sich darin Zeit und Ewigkeit berühren (Kierkegaard 1988). „Dank des Einbruchs der Ewigkeit in die Zeit ist er kein leerer Jetztpunkt, sondern erfüllte Gegenwart [...]. Dank dessen, d.h. vermöge des Augenblicks selber, gibt es aber auch [...] die sich aus der Zukunft ereignende und in die drei temporalen Dimensionen differenzierende ‚Zeitlichkeit‘, welche ihrerseits Geschichtlichkeit ermöglicht“ (Theunissen 1971: 649). Erst im Augenblick, so heißt es bei Kierkegaard, fängt die Geschichte an. So gesehen, war das Kabinett der Abstrakten von Beginn an mit einem anachronistischen Zeitbegriff, mit einer Feier des Augenblicks im Moment der Wahrnehmung von Kunst, mit einem Entwurf von Zukunft und mit der Vorstellung, Geschichte neu entwerfen zu können, verbunden.
In der Ära des Nationalsozialismus waren derartige Zeit-, Rezeptions- und Geschichtsmodelle ebenso unerwünscht wie die volkspädagogischen Konzepte der Weimarer Republik: Skrupellos wurde in der Hannoverschen Gemäldegalerie Hand an die Kunst angelegt, um Besitz von ihr zu ergreifen, um sie zu verkaufen oder zu zerstören. Nachdem er sich eine Zeitlang – wenn auch vergeblich – darum bemüht hatte, mit den nationalsozialistischen Machthabern zu paktieren (Katenhusen 2002: 7), trat Alexander Dorner 1936 als Museumsdirektor zurück. 1937 emigrierte er in die USA, wo er bis 1941 als Museumsdirektor der Rhode Island School of Design eine neue Aufgabe fand, bevor ihn eine Professur für Kunstgeschichte und Ästhetik an die Brown University in Providence führte (Ganz Blythe/Martinez 2018). Dass in der zurückliegenden Dekade zahlreiche renommierte Architekten, Sammlerinnen, Kuratoren, Grafiker und Filmemacher wie Sigfried Giedion, Philip Johnson, Albert Barnes, Katherine S. Dreier, Alfred H. Barr, Jan Tschichold und Dziga Vertov eigens angereist waren, um mit dem Kabinett der Abstrakten einen Ausstellungsraum zu bewundern, der wie kein anderer für die Partizipation von Besucher*innen und für eine zeitgemäße Medienreflexion eingetreten war, zählte nicht mehr. Im Juli 1937 wurden die im Kabinett der Abstrakten gezeigten Kunstwerke – ebenso wie viele andere aus den Beständen des nun als Landesmuseum bezeichneten Provinzial-Museums – beschlagnahmt.10 Manche zirkulierten – wie Ausstellungsfotografien belegen – als Exponate der nationalsozialistischen Propagandaausstellung Entartete Kunst durch das Deutsche Reich; manche gelten seither als verschollen (vgl. Prior 2002). Der Ausstellungsraum selbst wurde demontiert; seine Bestandteile sind vermutlich im Zuge dessen zerstört worden.
7. Rekonstruktion als Versuch der Wiedergutmachung
Erst im Jahr 1962 kam, angefacht durch die Ausstellung Die Zwanziger Jahre in Hannover, der Wunsch nach einer Rekonstruktion des Kabinetts der Abstrakten auf (Krempel 2015: 117). Einige Zeitzeugen erinnerten sich daran, dass ihnen das Kabinett der Abstrakten einst den Zugang zu ,moderner Kunst‘ eröffnet hatte. So schrieb der Oberstudienrat Ernst Lüddeckens einen Leserbrief, der in der Hannoverschen Presse sowie in der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung abgedruckt wurde. Darin hieß es: „man sollte das Abstrakte Kabinett wiederherstellen! [...] Lissitzkys Schöpfung ist es wert. Für den Museumsleiter Dorner, der emigrieren mußte, wäre es eine Wiedergutmachung und ein letzter Dank“ (Schulz 2016: 40).
Als Lydia Dorner, die Witwe Alexander Dorners, aus dem amerikanischen Exil zurückkehrte und finanzielle Unterstützung anbot, kam die Sache ins Rollen. Die zusätzlich erforderlichen 21.000 DM spendete die Kunstsammlerin Ilse Bode. Sie wurde in der Presse mit der Bemerkung zitiert: „Wir tun es Alexander Dorner zu Ehren – und weil wir Hannoveraner sind“ (Schulz 2016: 40). Am 4. Juli 1967 erteilte der damalige Direktor des Niedersächsischen Landesmuseums Harald Seiler dem Architekten Arno J. L. Bayer den Auftrag, eine „Neueinrichtung des Abstrakten Kabinetts“ (Schulz 2016: 40) vorzunehmen. Der Nachbau des Kabinetts der Abstrakten konnte am 22. Juni 1968 im Niedersächsischen Landesmuseum, der Nachfolgeinstitution des Provinzial-Museums, eingeweiht werden, allerdings diesmal in einem anderen räumlichen Kontext. Die Wahl fiel auf den Eckraum 39, da im ursprünglich genutzten Durchgangskabinett mit der Raumnummer 45 mittlerweile Teile der völkerkundlichen Sammlung Platz gefunden hatten. In der anlässlich der Einweihung der Rekonstruktion herausgegebenen Broschüre wird vor allem Alexander Dorner gefeiert. So lobt etwa der Gründer des Weimarer Bauhauses Walter Gropius darin die „Hellsichtigkeit des Museumspioniers Dorner“ (Gropius 1968: 5), während er dessen „Freund Lissitzky“ nur in einem Nebensatz erwähnt. Ja, auf dem Titelbild der Broschüre ist zu lesen: „In Memoriam Alexander Dorner“. Der zeitbezogene Horizont und das gesellschaftspolitische Konzept des Ausstellungsraums scheinen einzig in einem Text des Künstlers Dietrich Helms auf. Helms spricht davon, dass „die konstruktivistische Utopie die Hoffnung einschloß, daß sich der Mensch selbst auch unter der Einwirkung der ihn einbeziehenden Gestaltung verändern werde“ (Helms 1968: 15). Ob und inwieweit eine Rekonstruktion des Kabinetts der Abstrakten dazu imstande war, emanzipatorische Rezeptionsansätze der Weimarer Republik in der eigenen Gegenwart zu reaktivieren, wurde in der Broschüre nicht weiter thematisiert.
Die erste Rekonstruktion des Kabinetts der Abstrakten basierte vor allem auf dem Studium historischer Ausstellungsfotografien. Die Kuratorin Isabel Schulz, die im Sprengel Museum Hannover mit der dritten Rekonstruktion des Raumes betraut war und entsprechend gründlich recherchiert hat, kommt zu dem Schluss: „Über die Konzeption, über die Kriterien und Vorüberlegungen, die es für den Nachbau 1968 gegeben hat, sowie über die konkrete Bauausführung im Landesmuseum, wie übrigens auch über die spätere Überführung des Raums ins Sprengel Museum, wissen wir äußerst wenig. Bekannt ist, dass Seiler ,7 erhaltene Fotos vom Original und Kopien von Konstruktionszeichnungen‘ an den Architekten geschickt hat, wobei ungewiss bleibt, um welche Auswahl von Fotos es sich dabei gehandelt hat“ (Schulz 2016: 42). Um das Kabinett mit ,abstrakter Kunst‘ ausstatten zu können, wurden 1968 Werke, die jenen auf den Fotografien glichen, aus dem Museumsbestand bereitgestellt oder aber eigens angekauft.
8. Ein imaginärer ‚ursprünglicher‘ Zustand
Zu sehen war in der Rekonstruktion also kein klar definierter historischer Zustand des Kabinetts der Abstrakten, das immerhin von 1927 bis 1937 bestanden hatte, sondern eine Synthese aus Ansichten und Quellen verschiedener Zeiten (Schulz 2016: 42). Die räumliche Verschiebung innerhalb des Museums hatte überdies zur Folge, dass das Kabinett nun ohne Fenster – und damit ohne Tageslicht – auskommen musste und obendrein nur noch über einen einzigen Zugang verfügte. Das Eintauchen in die ‚neue Kunst‘ durch eine Tür und das Hinaustreten in die Alltagswelt des Treppenhauses des Museums durch eine andere Tür, war nicht mehr möglich. Die Rezipient*innen durchliefen mithin keine Passage, keinen räumlich durchchoreografierten Transformationsprozess mehr, sondern kehrten am Ende des Rezeptionsprozesses an den Ort zurück, an dem dieser seiner Anfang genommen hatte. Auch gaben die in den Drehvitrinen präsentierten Zeitschriften und Plakate den Stand der späten 1920er Jahre – und damit einen imaginären ‚ursprünglichen‘ Zugang – wieder. Dass Dorner hier nach 1933 NS-Publikationen wie Hitlers Kampf um die Macht und Die Kunst für alle ausgebreitet hatte, um die Machthaber versöhnlich zu stimmen oder um aktuelle Beispiele von Typografie zu integrieren, die im Alltag kursierten, fand keinerlei Erwähnung (vgl. Katenhusen 2008).
1978/79 wurde das Kabinett der Abstrakten dann in das Untergeschoss des soeben fertiggestellten Sprengel Museums Hannover transloziert; zu diesem Zweck wurde ein hermetisch wirkender White Cube gebaut, der wie ein Messestand – oder eine zur Betrachtung von Videokunst konzipierte Black Box – das einst in den Museumsrundgang eingebundene Kabinett der Abstrakten modellhaft simulierte. Gänzlich entfallen war damit das demonstrative Ausbrechen aus der Chronologie der Kunstgeschichte, die emphatische Feier des Augenblicks und der diskursive Bezug zu den anderen Ausstellungsräumen. Im Hinblick auf die Details – Decke, Boden, Wände und Leuchtkasten – orientierte sich diese zweite Rekonstruktion des Kabinetts der Abstrakten an der ersten. Neben Kompromissen, was die Rezipient*innenführung und den Lichteinfall angeht, – der Raum hatte ja in seiner ersten Fassung einen Eingang, einen Ausgang und ein Fenster gehabt – betrifft dies die Reduktion auf Schwarz-, Weiß- und Grautöne. Der Verzicht auf Farbe lässt sich am plausibelsten durch die Dokumentenlage erklären. Die zurate gezogenen Schwarzweißfotografien zeigten zwar anschaulich die Konstruktionsprinzipien des Raums, sagten jedoch rein gar nichts über das in den 1920er Jahren verwendete Farbschema aus. Infolgedessen orientierte sich die Rekonstruktion am Spektrum der Fotografien: Schwarz, Weiß und Grau. „Während El Lissitzky einst davon sprach, dass die durch die Farbwirkung erzeugte optische Dynamik die Betrachter*innen lebendig mache, bewirkte der Vorbildcharakter der überlieferten historischen Fotografien das genaue Gegenteil. Er sorgte für eine Stillstellung des Blicks und erzeugte die Vorstellung von einem historischen, in der Zeit des Nationalsozialismus schuldhaft verloren gegangenen Idealzustand, von einem Sehnsuchtsort, an dessen unerreichbarer Perfektion sich der rekonstruierte Raum messen lassen muss“ (Tietenberg 2017: 56).
Die ersten beiden Rekonstruktionen des Kabinetts der Abstrakten stellten zwar keinen Bezug zu den volkspädagogischen Konzepten der Weimarer Republik her, fungierten aber als begehbare Erinnerungsräume. Getragen von dem Wunsch nach Wiedergutmachung und aufgewertet durch eine gehörige Portion Lokalpatriotismus hatte sich das Kabinett der Abstrakten, ein Raum, der einst „in die Zukunft entworfen“ (Helms 1968: 15) worden war, in ein Mahnmal verwandelt, in einen schmerzhaften Verweis auf die aggressive Zerstörung eines explizit ‚modernen‘ Ausstellungsdisplays durch die nationalsozialistische Kulturpolitik – in ein in Grau und Schwarz gehülltes Zeugnis von Trauer und Verlust. Die zweite Rekonstruktion des Kabinetts der Abstrakten war im Sprengel Museum in Hannover beinahe fünfzig Jahre in Gebrauch. Seit dem Jahr 2008 wiesen Foto-Text-Tafeln an der Außenwand des Kubus auf die Geschichte des Raumes hin. Als der Kitt bröckelte, die Farbe der schwarzweiß gefassten Metallbänder abplatzte, die Rollen der Kassetten blockierten und die Schiebewände quietschten, entschied sich das Sprengel Museum 2016 gegen eine Sanierung und nahm, unterstützt vom Messebauspezialisten Holtmann, eine dritte Rekonstruktion in Angriff, die im März 2017 eingeweiht wurde. Die verantwortliche Kuratorin Isabel Schulz kümmerte sich nicht nur um jedes Detail. Ihre Recherche hatte auch – basierend auf kunstwissenschaftlichen Forschungen der letzten Jahre – einen anderen Fokus: „Heute steht die Vermittlung der Raumvorstellungen und Ideen des konstruktivistischen Künstlers sicherlich mehr im Vordergrund als die des Andenkens an das Museumskonzept Dorners“ (Schulz 2016: 45).
Während die ersten beiden Rekonstruktionen des Kabinetts aus dem Jahr 1968 und dem Jahr 1979 sich vorrangig an den überlieferten Schwarzweiß-Fotografien orientiert hatten, liegen der dritten Rekonstruktion nun die farbigen Zeichnungen und Collagen El Lissitzkys zugrunde. Das wirkt sich auf die Wahrnehmungsbedingungen aus. Der Raum hat nun wieder, wie in der ersten Version aus der Weimarer Zeit, einen Eingang und einen Ausgang, die beide durch das Beiseiteschieben von dunkelgrauen Stoffvorhängen durchquert werden können, wodurch der Bühnencharakter unterstrichen wird. Der graue Nadelfilz, ein Notbehelf der 1970er Jahre, ist einem hochwertigen schwarzen Linoleumboden gewichen, der die Schritte sanft abfedert. Und die Decke wurde, wie in den1920er Jahren, in exakt bemessenen Bahnen aus hellem Nessel gefertigt. Dank einer ausgeklügelten Lichttechnik kann zudem der Einfall von Tageslicht durch ein Fenster simuliert werden. Der größte Unterschied aber besteht in der Interpretation des Farbkonzepts. El Lissitzkys Zeichnungen folgend, lenken nun revolutionsrote Bänder, die sich über Fuß- und Deckenleisten sowie über die Rahmung der Vitrinen und verschiebbaren Kassetten erstrecken, die Blicke und Schritte der Museumsbesucher*innen.
9. Zeitmontagen
Die erste Rekonstruktion des Kabinetts der Abstrakten im Landesmuseum Hannover war ein in Schwarz, Weiß und Grau gehüllter Widergänger, ein Raum der partiellen Erinnerung, in dem die nun zur bitteren Vergangenheit gewordene Zukunft der Protagonist*innen der Weimarer Zeit mehr ausgeblendet als erzählt wurde. Fertiggestellt wurde die Rekonstruktion 1968, und damit just in jenem Jahr, in dem die Protestkultur der 68er, die die Verstrickungen der Repräsentanten der Bundesrepublik Deutschland in nationalsozialsozialistische Ideologien und Gräuel anklagte, ihren Höhepunkt erlebte. Von Judenverfolgung und -vernichtung, von Beschlagnahmungen der Kunstwerke und Restitutionsansprüchen ehemaliger Eigentümer*innen, ja von individueller Schuld war in der Broschüre, die anlässlich der Einweihung des rekonstruierten Ausstellungsraums herausgegeben wurde, jedoch nicht die Rede. So warf Ernst Lüddeckens in seinem Aufsatz zwar die quälende Frage auf: „Warum wurde das Abstrakte Kabinett beseitigt?“, blieb aber eine Antwort schuldig (Lüddeckens 1968: 7). Dass El Lissitzky, bereits an Tuberkulose erkrankt, 1938 in das KZ Sachsenhausen deportiert worden war und nach seiner Entlassung 1941 in der Sowjetunion, die soeben von deutschen Truppen überrannt wurde, verstarb, fand in der Broschüre keine Erwähnung. Verschwiegen wurde ebenfalls, dass Sophie Lissitzky-Küppers, die 1944 unter Stalin als feindliche Ausländerin mitsamt ihrem Sohn Jen nach Nowosibirsk verbannt worden war, 1967 in der DDR, im Dresdner Verlag der Kunst, ein Werkverzeichnis El Lissitzkys herausgegeben hatte. Darüber hinaus fehlte in der Zeit des Kalten Krieges jeglicher Hinweis darauf, dass El Lissitzky Ausstellungsräume als Propagandainstrumente zur Verbreitung der Ideen der Russischen Revolution verstanden und gestaltet hatte (Buchloh 1984). Stattdessen beschwor Museumsdirektor Harald Seiler die „Erinnerung an die [...] bedeutsame Ära Dorner“ und „die schöpferischen Energien der 20er Jahre“ (Seiler 1968: 4) herauf.
Schmerzlich vermissen ließ die erste Rekonstruktion mithin nicht nur das Farbkonzept El Lissitzkys, sondern auch – und vor allem – die Bereitschaft, Kunst in historischen und gesellschaftspolitischen Kontexten zu denken. Anders gesagt, jene glorreiche Zukunft, die sich die progressiven kulturellen Kräfte in der Weimarer Republik einst als ein flexibles und partizipatorisches Miteinander von gebildeten Mitbürger*innen vorstellten, hatte sich in der Zeit des Nationalsozialismus als furchtbare Gegenwart einer verblendeten, vor keinem Verbrechen gegen die Menschlichkeit zurückschreckenden Volksgemeinschaft erwiesen. Der Versuch, mit der Rekonstruktion an einen imaginierten Idealzustand vor dem ‚Sündenfall‘ anzuknüpfen, führte dazu, dass die in die Dreidimensionalität transformierten menschenleeren Schwarzweißfotografien mehr von der Weigerung zeugten, die Geschehnisse der Vergangenheit zur Kenntnis zu nehmen, als dies den Initiator*innen bewusst gewesen sein mag. Wer in diesem rekonstruierten Kabinett der Abstrakten die Kunstwerke verschob und in Bewegung versetzte, spürte, dass das Spiel längst aus und die choreografierte Aktion nicht mehr als eine leere Geste war.
Die zweite, ebenfalls auf Schwarz, Weiß und Grau reduzierte Rekonstruktion aus dem Jahr 1979, ein in die Ausstellungsräume integrierter Kubus, der speziell für die räumliche Situation im Sprengel Museum gebaut worden war, band das Kabinett der Abstrakten ein in die auf Kunststile fokussierte Kunstgeschichtsschreibung des 20. Jahrhunderts und präsentierte es als eine Inkunabel der Moderne unter anderen. Weder der Produktionsbegriff des russischen Konstruktivismus noch die Sprengkraft eines solchen Präsentationsmodus von Kunst in einem musealen Kontext wurden auf diese Weise erfahrbar gemacht. Vielmehr nahm von nun an „ein eigenartiger, schleichender Prozess der ‚Originalisierung‘“ (Krempel 2015: 126) seinen Lauf, der einem unbeschwerten Umgang mit den beweglich montierten Grafiken und Gemälden im Wege stand.
Mit der dritten Rekonstruktion setzt nun schließlich eine stärkere Diskursivierung des Kabinetts der Abstrakten im Kontext der Geschichte der Rauminstallation sowie einer auf gegenwärtige Partizipationskonzepte zielenden Kunstwissenschaft ein (Halle fuer Kunst Lueneburg eV 2009, Bove 2014; Hemken/Knop 2021). In seiner Materialität und Beleuchtung verleugnet der Raum nicht, dass er ein Produkt des 21. Jahrhunderts ist. Damit ist die unverstellte Freude an Farbe, Beweglichkeit und Berührbarkeit der Kunst zurückgekehrt. Denn nicht nur das Kabinett hat sich im Zuge seiner Rezeptions- und Rekonstruktionsgeschichte verändert; auch die Museumsbesucher*innen sind inzwischen andere geworden. Während für El Lissitzky und Alexander Dorner die Volksbildung und damit die ästhetische Erziehung mündiger Staatsbürger*innen im Vordergrund standen, näherten sich die Besucher*innen der ersten Rekonstruktion verhalten einem Gedächtnisort, der durch Leerstellen unausgesprochen auf kollektive Schuld, Trauer und Verlust verwies. Die zweite Rekonstruktion hingegen erzeugte ein gehöriges Maß an Distanz, indem sie den gesamten Raum in den Rang eines einstmals avantgardistischen Kunstwerks rückte, das zu bestaunen, nicht aber ohne Scheu anzutasten war. Heute hingegen betreten Museumsbesucher*innen, die es gewohnt sind, im Feld der Kunst zu partizipieren und zu interagieren, selbstbewusst und unbefangen die farbenfrohe Bühne. Vertraut mit den Angeboten der Unterhaltungsindustrie halten sie es für selbstverständlich, im Zentrum des Geschehens zu stehen. Oftmals lassen sie sich in dieser scheinbar speziell für sie eingerichteten Arena der Kunst fotografisch festhalten und posten die Aufnahmen anschließend auf Instagram oder Facebook. Während sich in den 1920er Jahren mit einem Verweis auf die Wahrnehmungsbedingungen im Kino im Kabinett der Abstrakten die kollektive Kunstrezeption für die einen als Versprechen, für die anderen als Bedrohung ankündigte, genießen inzwischen die meisten Museumsbesucher*innen unbeschwert und bewundert von fernen Followern den als soziales Kapital medial verwertbaren kreativen Freiraum, den ihnen die Rekonstruktion des Kabinetts der Abstrakten eröffnet.
10. Erinnerungsräume
Ausstellungskopien sind keine Kunstwerke. Sie konstituieren sich über den Verlust eines Ursprungs. Und fallen insofern in die Kategorie der „Nicht-Werke“ (Didi-Huberman 1999: 9), als sie eben nicht aus einem genuin künstlerischen Schaffensprozess hervorgehen, dem das Ringen um ästhetische Entscheidungen und das Risiko des Scheiterns innewohnt. Vielmehr sind sie von Institutionen veranlasste, zumeist in arbeitsteiligen Prozessen hergestellte, möglichst detailgenaue Wiederholungen von nicht mehr existenten Endprodukten künstlerischen Denkens und Handelns. Diese Verluste können auf verschiedene Weise dokumentiert sein: fotografisch, filmisch, als Zeichnung, als Plan, textuell, oral – und obendrein in verschiedenen Entwurfsstadien oder Zuständen. Als Synthese derart heterogener Quellen lassen Ausstellungskopien aber paradoxerweise weitaus mehr Rückschlüsse auf die verloren gegangenen Kunstwerke zu, als jene Dokumente, auf deren Basis sie selbst entstanden sind. Das liegt daran, dass Ausstellungskopien – wie anhand des Kabinetts der Abstrakten dargestellt – konkrete Gebilde sind, die Ausstellungsbesucher*innen ganzkörperliche Erfahrungen in realräumlichen Kontexten ermöglichen, mithin eine multisensuelle Rezeption in der Gegenwart provozieren, obwohl der eigentliche Rezeptionsanlass in der Vergangenheit hervorgebracht wurde und zumeist nicht einmal mehr bruchstückhaft überliefert ist. Oder um es – Didi-Hubermans Eloge an den Abdruck aufgreifend – mit Patrick Boucheron zu sagen: „So wie man seinen Fuß in einen alten Abdruck setzt [...]“, so ruft eine Ausstellungskopie bei ihren Rezipient*innen „eine Erinnerung hervor und beschwört damit noch einmal die Aura des Werkes herauf“ (Patrick Boucheron 2017: 17).
Ausstellungskopien animieren demnach Rezipient*innen dazu, mit jeder Faser ihres Körpers etwas zu erinnern, das sie zuvor allenfalls aufgrund des Betrachtens von Abbildungen, des Lesens von Beschreibungen oder vom Hörensagen kannten. Da der Verlust des Ursprungs unrevidierbar ist, führt ein solcher Erinnerungsprozess jedoch nicht zwangsläufig an den Punkt zurück, an dem die Geschichte des Kunstwerks, auf das Bezug genommen wird, begonnen hat. Wie am Beispiel der drei unterschiedlichen Rekonstruktionen des Kabinetts der Abstrakten in Hannover gezeigt werden konnte, kann die Erinnerung an verschiedene Zeitschichten anknüpfen. Denn weder Kurator*innen noch Rezipient*innen sind dazu in der Lage, sich ein Bild von der Vergangenheit zu machen, das nicht von ihrer eigenen Determiniertheit, ihren jeweils zeitbezogenen Perspektiven und ihren Erwartungen an die Kunst und ihre Institutionen geprägt wäre.11 Mal erhält die Ehrung des Kurators Vorrang. Mal treten die Beschlagnahmungs- und Zerstörungsaktionen einer als „entartet“ diffamierten Kunst in der Ära des Nationalsozialismus in den Vordergrund. Mal wird das Kabinett der Abstrakten zur Ausgangsbasis einer Genese heutiger Installationskunst, die Künstler*innen dazu ermächtigt, Ausstellungsräume in ihrer Gesamtheit zu bespielen – und so letztlich Gestalter wie El Lissitzky überflüssig zu machen. In einer anachronistischen Verschränkung der Anwesenheit der Gegenwart von Vergangenem, der Gegenwart von Gegenwärtigem und der Gegenwart von Künftigem erzählt jede Ausstellungskopie des Kabinetts der Abstrakten eine andere Geschichte von der ‚modernen Kunst‘, die einst eine mögliche Zukunft heraufbeschworen hat.
Fazit: In Ausstellungskopien verdichten und überlagern sich wie in einer Zeitmontage verschiedene Phasen der Produktion und Rezeption von Kunst. Ich interpretiere Ausstellungskopien daher als räumlich erfahrbare, materialisierte Anachronismen, denen das Potenzial innewohnt, zeitliche Distanzen zu überwinden, aus der starren Chronologie eines Vorher und Nachher auszubrechen und mehrere Zeitpunkte künstlich an einem Ort zusammenzuführen. So birgt jede Ausstellungskopie, wiewohl sie ein Anzeichen von Verlust ist, auch das Versprechen in sich, Zukunft zu entwerfen. Denn so lange eine Ausstellungskopie Rezeptionsprozesse anregt, hat sie auch das Potenzial, den Bogen der Zeit weiter zu spannen. Gleichermaßen eng verwoben mit der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft, ruft sie eine l’histoire à venir (Boucheron 2018), eine kommende Geschichte wach. Der Augenblick aber, von dem Kierkegaard spricht, kehrt nicht zurück. Denn die Geschichte hat bereits begonnen.