Andreas Kossert, Kalte Heimat. Die Geschichte der deutschen Vertriebenen nach 1945, 2008

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Andreas Kossert, Kalte Heimat. Die Geschichte der deutschen Vertriebenen nach 1945, München: Siedler, 2008

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Flucht und Vertreibung sind Begriffe, die die Deutschen 60 Jahre danach immer noch beschäftigen. Viele Bücher und Filme machten in den letzten Jahren die Ereignisse der Nachkriegszeit im deutschen Osten zum Thema. Der Historiker Andreas Kossert, Jahrgang 1970, will mit Kalte Heimat nicht nur eine vollständige Darstellung der Problematik bieten, sondern auch noch endlich mit der Legende der geglückten Integration der deutschen Heimatvertriebenen in der Bundesrepublik aufräumen.

Das Buch beginnt mit einem Zitat von Otto Schily, in dem der damalige Bundesinnenminister 1999 bekennt, dass die politische Linke lange nur Desinteresse zeigte und dem Thema Vertreibung nur Verschweigen und Verdrängen entgegenbrachte. Der linke Schuldbekenner sagt dabei nichts Neues. Wie die einheimische Bevölkerung der westlichen Besatzungszonen die Heimatvertriebenen empfangen hat, erscheint durch Kosserts Analyse in einem neuen Licht. Ab 1990 begann diese Realität die Wissenschaft zu beschäftigen. Kalte Heimat soll das anhand konkreter Beispiele veranschaulichen.

Das 430-seitige Buch trägt der Bedeutung der furchtbaren Ereignisse und Untaten nach dem Zweiten Weltkrieg Rechnung, die an den Deutschen im Osten begangen wurden. Diese umfangreiche Studie befasst sich mit allen möglichen Aspekten, die Flucht und Vertreibung betreffen. Schon in der Einleitung werden die Geschehnisse dargestellt und die Frage beantwortet, was Flucht und Vertreibung unterscheidet und welche Deutung der Ereignisse sich daraus ergibt. Zunächst war nur von Vertriebenen die Rede. Erst 1949 sprach man auch von Flüchtlingen. In der SBZ/DDR, der die Realität der Vertreibung durch polnische und sowjetische Kommunisten zuwider war, gab es sog. „Umsiedler“ und später nur noch „Neubürger“. Kossert geht der Vergangenheit der Ostdeutschen auf den Grund und untersucht alle Hinweise auf ihre Anwesenheit im Osten. Eine zweiseitige Tabelle (S. 22-23) belegt mit Zahlen, wie groß die Bevölkerungsgruppen in den verschiedenen östlichen Ländern, Landesteilen und Provinzen waren. Bekannte Politiker mit Wurzeln in den Ostgebieten (wie Altbundespräsident Köhler) werden als Beweis für die Bedeutung des deutschen Ostens in der heutigen Gesellschaft genannt. Auch der frühere SPD-Vorsitzende Schumacher kam aus dem Osten. Der kühne Hinweis, „sehr wahrscheinlich hätte der Lastenausgleich für die Vertriebenen ganz anders ausgesehen“ (S. 25), wenn Kurt Schumacher nicht so früh gestorben wäre, mag bei einem so seriösen Historiker wie Kossert staunen lassen. Mehrmals im Buch werden bekannte Menschen aus den östlichen Provinzen genannt, aus der Vergangenheit wie aus der Gegenwart (vom Philosophen Immanuel Kant bis zum Fußballspieler Lukas Podolski). Die Namen einer ganzseitigen Liste stehen geschickt unter dem Hinweis „Menschen aus dem Osten“ (S. 343), so dass sich Nikolaus Kopernikus einreihen lässt, ohne die deutsch-polnische Polemik über die Nationalität des Physikers aufflammen zu lassen. Wie oft in der Vertriebenenpresse fungiert auch hier der Hinweis auf große Menschen als Beleg für die Bedeutung des Erhalts des kulturellen Erbes aus dem Osten.

Die Geschichte von Flucht und Vertreibung der Deutschen aus ihrer Heimat in den östlichen Gebieten wird zunächst von den ersten Entscheidungen der Alliierten auf der Konferenz in Teheran 1943 bis zu ihrer Ankunft in den Besatzungszonen ab 1945 dargestellt. Kossert zeigt, dass nicht nur Deutsche den Vertreibungen zum Opfer fielen, sondern auch Finnen, Polen, Ungarn und Italiener. Die Tatsache, dass Deutsche auch Opfer sind, wollten viele nach dem Krieg nicht einsehen. Nicht nur in der DDR, die dabei den von Moskau diktierten Kurs verfolgte, wurden die Nationalsozialisten für alle Untaten und Folgen des Krieges verantwortlich gemacht. Auch im Westen wurde den Vertriebenen vorgeworfen, aus gutem Grund vertrieben worden zu sein, auch wenn die meisten einfache Zivilisten waren (von den Gegnern und Opfern der Nationalsozialisten ganz zu schweigen). Der Tonfall des letzten Absatzes dieses Kapitels ist etwas pathetisch, aber zutreffend: „Zur gleichen Zeit [Während der Nürnberger Prozesse, L.P.] fand mit Billigung der Siegermächte die größte „ethnische Säuberung“ in der neueren Geschichte statt − die Vertreibung der Deutschen aus dem Osten und Südosten Europas“ (S. 42).

Nach der Ankunft der Vertriebenen in den Besatzungszonen war ihr Leid noch lange nicht zu Ende. Vor allem die Wohnmöglichkeiten und die Beschaffung von Nahrungsmitteln waren die allerersten Prioritäten für die neuen Einwohner, die Unterstützung und Hilfe der einheimischen Bevölkerung gebraucht hätten, während diese selber im Krieg vieles verloren hatte und sich als wenig hilfsbereit erwies. Nicht selten musste die Polizei eingreifen, damit die Vertriebenen die ihnen zugewiesene Wohnung beziehen konnten. Die einheimische Bevölkerung kämpfte ums Überleben (Kosserts Widerlegung des Begriffs der „Stunde Null“ (S. 49) ist wenig einleuchtend) und die Aufrufe aus christlichen oder politischen Kreisen fanden wenig Widerhall. Die Beschreibung der Lebensverhältnisse wird im Buch mit vielen Auszügen aus der Literatur über die Ostgebiete dokumentiert. Auch hilfreich sind die Tabellen, die die Verteilung der Vertriebenen auf dem ganzen deutschen Territorium zeigen. Vor allem in Niedersachsen, Schleswig-Holstein und Bayern haben die Vertriebenen Aufnahme gefunden. Sie wurden meistens auf dem Lande angesiedelt − in der illusorischen Hoffnung auf einen leichteren Einstieg ins Berufsleben −, oder gründeten Siedlungen am Stadtrand, wo die neuen Straßen Namen bekamen, die an die verlorene Heimat erinnerten. Kossert zeigt hervorragend ihre Schwierigkeiten, sich in der westdeutschen Gesellschaft zu integrieren. Seine Analysen werden mit vielen Dokumenten belegt, die seine Darstellung beleben.

Das Schicksal der Vertriebenen war immer ein Politikum in der Geschichte der Bundesrepublik. Die bekanntesten Persönlichkeiten (Herbert Hupka, Herbert Czaja) standen im Mittelpunkt der öffentlichen Aufmerksamkeit und vertraten die Interessen der Verbände. Aber nicht so viele Vertriebene waren Mitglied in einer Heimatgruppe. Auch hier illustrieren Kosserts Tabellen diese Tatsache und zeigen, dass nur eine Minderheit der Heimatvertriebenen einer Landsmannschaft angehört, wobei diese Organisationen jedoch im Namen aller Vertriebenen sprechen (S. 145). Dies erklärt zum Teil, warum die Vertriebenen pauschal als rechtslastig galten, wenn die Verbände allzu revanchistisch auftraten.

Auch wenn fast alle Analysen einleuchten, muss man staunen, wenn manche Redewendungen an die Ausdruckweise der Vertriebenen erinnern: „[…] stellte die Fraktion der Grünen im Kreistag von Recklinghausen den Antrag, die Patenschaft mit Beuthen-Tarnowitz aus politisch-ideologischen Gründen niederzulegen“ (S. 159). Dass Politiker aus politisch-ideologischen Gründen handeln, kann doch nicht überraschen. Man darf sich fragen, ob die Grünen zufällig das Ziel dieser Bemerkung sind oder ob sie angeprangert werden, weil sie gemeinhin als Gegner der Vertriebenen gelten. Im Schlussteil nimmt Kossert den Tonfall eines Anwalts an, der die Causa der Vertriebenen vertritt. Zum Beispiel mit der Forderung nach einem nationalen Gedenktag an Flucht und Vertreibung (S. 353) macht er sich einen Anspruch der Vertriebenenverbände zu Eigen. Mancher Vorschlag geht sogar über die Wünsche der Vertriebenen hinaus: „Wenn in Schleswig-Holstein vierzig Prozent der Bevölkerung Vertriebene mit ihren Nachfahren sind, müßten strenggenommen vierzig Prozent der Kulturförderung für das Land zur Pflege von deren Traditionen aufgewandt werden“ (S. 342).

Abgesehen von einigen Übertreibungen bleibt Kosserts Blick aber scharfsichtig. Die Exzesse mancher Forderungen werden streng abgelehnt, zum Beispiel die Initiative der Preußischen Treuhand, die sich für die Rechte der Heimatvertriebenen einsetzt: „Zur Irritation trägt in erheblichem Maße eine Minderheit im BdV bei, die zu einem Konfrontationskurs zurückkehren will, allen voran die Preußische Treuhand. Für die Außenwirkung der Vertriebenenverbände ist das verheerend. Noch schlimmer ist, daß alle etwas verlieren bei diesem Kurs“ (S. 164). Kossert bekräftigt Steinbachs Kurs, der im Schlussteil der Analyse zum Tragen kommt, wenn an die Bedeutung eines Zentrums gegen Vertreibungen erinnert wird.

Wer sich mit dem Thema Flucht und Vertreibung befasst, findet in Kalte Heimat ein gut dokumentiertes Werk, in dem alle Analysen und Interpretationen sachlich belegt werden. Ab und zu lässt Kossert seine Sympathie für die Vertriebenen erkennen. Er verliert dabei keineswegs seinen wissenschaftlichen Blick. Diese Neigung lässt sich eher durch das schwere Schicksal erklären, das die Vertriebenen erleiden mussten. Beim Streben, diesen Menschen einen würdigen Platz in der deutschen bzw. europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts einzuräumen, zeigt Kossert unverblümt die Leiden der Vertriebenen von ihrer Vertreibung bis heute auf und plädiert dafür, dass sich alle Deutschen von Flucht und Vertreibung betroffen fühlen.

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Lionel Picard, « Andreas Kossert, Kalte Heimat. Die Geschichte der deutschen Vertriebenen nach 1945, 2008 », Textes et contextes [Online], 5 | 2010, . Copyright : Licence CC BY 4.0. URL : http://preo.u-bourgogne.fr/textesetcontextes/index.php?id=285

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Lionel Picard

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