Die Dissertation von Christian Lotz wurde in der Schriftenreihe « Neue Forschungen zur schlesischen Geschichte » veröffentlicht. Diese Arbeit aus dem Jahre 2006 analysiert die Konflikte um die Deutung der Bevölkerungsverschiebungen von Schlesien in den Westen ab 1945. Besonders zu begrüßen sind die klaren Erklärungen im Vorwort, mit welchen die Begriffe Vertreibung, Flucht und Aussiedlung definiert werden. Schon die jeweils gewählte Bezeichnung für den Vorgang bedeutet eine unverkennbare Deutung. Der Autor bringt diese politische Instrumentalisierung der Sprache in seinem Buch gut ans Licht. Noch heute lässt sich in Polen nur schwer über die ‚Vertreibung‘ der Deutschen sprechen. Das Wort setzt sich langsam durch, obwohl Jahrzehnte lang nur von Aussiedlung gesprochen werden durfte. Die Wortwahl spielt eine nicht zu unterschätzende Rolle in der Erinnerungspolitik und Lotz will in seinem Buch zeigen, wie die verschiedenen Deutungen von verschiedenen Organisationen von 1948 bis 1972 getragen wurden und in welchem Verhältnis sie zueinander stehen.
Die zeitliche (doppelte Anerkennung durch die DDR 1948/1950 und die BRD 1970/1972), räumliche (BRD und DDR, auch wenn die Stellungnahmen im Ausland in manchen Fällen ausschlaggebend hätten sein können) und thematische (nur die Territorien östlich von Oder und Neiße werden berücksichtigt) Analyse will zeigen, wann und inwiefern Organisationen eine Deutungshoheit erreichen. Gegenstand der Untersuchung sind folgende Organisationen: die Landsmannschaft Schlesien (LS) (die größte Landsmannschaft der Bundesrepublik), die Helmut-von-Gerlach-Gesellschaft (HvGG) (später in Ostdeutschland ‚Deutsch-polnische Gesellschaft‘ und in Westdeutschland ‚Deutsche Gesellschaft für Kultur- und Wirtschaftsaustausch mit Polen‘ (DGKWAP)), die Evangelische Kirche von Schlesien (in der DDR) und die Gemeinschaft Evangelischer Schlesier (in der BRD). In die Analyse mit einbezogen werden das Bundesministerium für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte, das Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen, die Abteilung Agitation und Propaganda beim Zentralkomitee der SED und das Ministerium für Staatssicherheit. Somit kommen die offiziellen Deutungen beider deutschen Staaten zum Ausdruck. Besonders interessant ist die Entwicklung der Beziehungen zwischen der LS und den westdeutschen Ministerien. In seinen Bemühungen um Ausführlichkeit vergisst Lotz nicht darzustellen, wie sich die Vertretung der Vertriebenen in der Bundesrepublik in verschiedenen Formen organisiert hat. Im Wirrwarr der Vereine, Heimatgruppen, Heimatkreisvereine können die künftigen Schwierigkeiten der LS um eine einheitliche Deutung vorausgeahnt werden. Alle unter die Lupe genommenen Organisationen werden in ihrer geschichtlichen und politischen Bedeutung charakterisiert. Der erste Teil endet mit einem Rückblick auf den historischen Hintergrund von Flucht und Vertreibung, wobei die schwierige Unterscheidung zwischen beiden Begriffen betont und die Folgen für die jeweiligen Deutungen unterstrichen werden.
Die Analyse der ersten Periode zeigt, wie die LS ins Zentrum der Öffentlichkeit rückt, denn ihre Deutung der Vertreibung steht im Einklang mit der Einstellung der Mehrheit der Bevölkerung in der BRD. Die LS befasst sich allein mit dem Unrecht der Vertreibung der Deutschen. Andere Bevölkerungsbewegungen werden nicht erwähnt. Dies geht mit der Tatsache einher, dass Rechtsansprüche ständig wiederholt werden. Je grausamer die Vorgänge waren, umso berechtigter erscheinen die Ansprüche, auch wenn Juristen die Lage nicht so eindeutig sehen. Die HvGG fungiert als Feind der LS, weil sie genau die entgegengesetzten Ziele verfolgt. Da die LS den Expansionsdrang des Kommunismus als einzigen Grund für die Vertreibung nennt, betrachtet sie die Kommunisten der BRD als ihre Gegner. Christian Lotz zeigt, wie die DDR-Führung bemüht war, die Kontakte zwischen in der DDR und in der BRD wohnenden Vertriebenen zu verbieten, und notfalls die Grenze abriegelte, um die Teilnahme an Heimattreffen in Westdeutschland zu verhindern. Damals war noch kein großer Unterschied zwischen der LS und den westdeutschen Ministerien zu verzeichnen. Nur im Ton zeigt sich die LS radikaler. Die HvGG versteht die Vertreibung als eine Konsequenz des Klassenkampfs: Reiche Deutsche haben lange Zeit arme Polen ausgebeutet und wurden nach dem Krieg in den Westen ausgesiedelt, nachdem die Rote Armee Polen von den deutschen Grundherren befreit hatte. Sie widerspricht auch der These der LS und behauptet, dass die Territorien jenseits der Oder-Neiße-Linie schon vor dem Krieg mehrheitlich von Polen besiedelt waren. Die von der SED finanzierte HvGG gilt als offizielles Sprachrohr der DDR-Führung. Die SED verbietet jedwede von der Ideologie abweichende Deutung, und die Polizei verfolgt die sich konstituierenden Gruppierungen. Die Evangelische Kirche von Schlesien wird von der SED-Macht geduldet. Ihre soziale Funktion und die Dämpfung der nationalistischen Gefühle bringen die SED zur Nachsicht. Lotz zeigt sehr gut, dass sich schon nach dem Krieg unterschiedliche Deutungen und Standpunkte in den beiden Staaten herausbildeten.
Die zweite Periode von 1956 bis zur Mitte der 1960er Jahre ist für die LS ein Wendepunkt, da die Kritik nicht mehr allein vom linken politischen Spektrum kommt. Immer mehr Menschen stellen die Ansprüche der LS in Frage. Mit den Nazi-Prozessen wird sich die Bevölkerung der BRD der deutschen Verantwortung für die Folgen des Krieges bewusst. Die Beziehungen zwischen den eher neutralen Heimatgruppen und dem stark politisierten Vorstand der LS führen zu Spannungen, die mit dem finanziellen Druck durch den Vorstand beseitigt werden. In den Bundesministerien hat nun die Vereinigung beider deutschen Staaten vor der Rückgewinnung der Ostgebiete Vorrang. Die DGKWAP, die Nachfolgeorganisation der HvGG, kann sich auf Grund ihrer widersprüchlichen Positionierung zur LS Gehör in der BRD verschaffen. Lotz zeigt, wie die Deutung der SED trotz Widerstände allmählich voranschreitet. Auch in der Deutung mancher Begriffe verzeichnet die SED Erfolge: „Revision“ und „Rückkehr“ sind für die LS positive Begriffe. Für die SED aber haben sie eine negative Konnotation, die die Verwendung durch die LS diskreditiert. Die Rolle der evangelischen Kirchen lässt sich schwieriger verfolgen. Lotz analysiert sowohl die Konflikte innerhalb der Führung und mit der SED-Macht als auch die Konflikte in der LS, wobei sich vor allem Auseinandersetzungen innerhalb der LS oder zwischen der LS und anderen Gruppen als aufschlussreich erweisen.
Der Autor zeigt hervorragend, wie sich die LS und die Bundesministerien in den 1960er Jahren voneinander distanzieren. LS-Präsident Hupka schafft es nicht, die LS zu modernisieren, während die Bundesregierung mit der Ostpolitik einen Wechselkurs einschlägt, der von den Bundesministerien mitgetragen wird. Als Beweis für die Mentalitätsänderung gilt die Tatsache, dass die DGKWAP, obschon sie als kommunistische Tarnorganisation bekannt ist, salonfähig wird, da sie sich für eine Annäherung an Polen ausspricht. Die SED beharrt dabei auf ihrem Standpunkt und setzt ihren Kurs fort, weil die Ostpolitik für ein taktisches Manöver des westlichen Imperialismus gehalten wird. Auch für diesen Zeitraum ist die Deutung der evangelischen Kirchen nicht so relevant wie die der politischen Organisationen.
Die Analyse von Christian Lotz zeigt sehr gut, wie die LS und die SED vor allem das Thema Vertreibung so stark politisieren, dass es immer schwieriger wird, darüber neutral zu sprechen. Wer sich des Themas annimmt, wird sofort dem einen oder dem anderen Lager zugeordnet. Mit dieser Studie werden die verschiedenen Deutungen der Vertreibung klar analysiert und es stellt sich heraus, dass der Eiserne Vorhang keinesfalls als Trennlinie zwischen den Deutungen verstanden werden darf.
Am Ende der Studie steht eine Zusammenfassung in deutscher, polnischer und englischer Sprache. Das umfangreiche Literaturverzeichnis bietet einen guten Überblick über den Stand der Forschung, der in der Einleitung vorgestellt wurde. Ein Personen- und ein Ortsregister (mit deutschen und polnischen Ortsnamen) schließen das Buch ab.