1. Einführung
Dem Maler Johann Moritz Rugendas ist in den letzten Jahren verstärkt Aufmerksamkeit im deutschsprachigen Raum zugewandt worden. Während er in Lateinamerika bereits seit den vierziger Jahren des 20. Jahrhunderts sehr bekannt war, galt dies für den aus Augsburg stammenden Maler für Deutschland erheblich weniger, wo nur einige seinen Namen kannten. Wenngleich seit den fünfziger Jahren unregelmäßig immer wieder kleine Ausstellungskataloge erschienen, so blieb doch die Ausstellungs- und Publikationsdichte deutlich hinter jener aus Lateinamerika zurück. (Diener-Ojeda 1998 ; Mariana Giordano 2009 : 1291)1 Doch fällt für Lateinamerika auf, dass jeweils nur Teile des Oeuvres von Rugendas herausgegriffen werden und zwar stets diejenigen, die mit dem Land, in welchem die Ausstellung stattfindet, verbunden sind. (Diener-Ojeda 2002 ; Juan Mauricio Rugendas, El Perú romántico del siglo XIX., Lima 1975 ; Diener-Ojeda 1992).2 Damit fehlt aber eine vergleichende Einordnung, die wichtig ist, um zu erkennen, dass Rugendas für die von ihm bereisten Länder die Rolle des Schöpfers einer nationalen Identität in der Kunst zukommt. Gerade in Lateinamerika, wo es in den zwanziger bis vierziger Jahren keine wirklich länderspezifische „argentinische“, „brasilianische“ oder „mexikanische“ Malerei gab, war es Rugendas, der Generationen nach ihm prägen sollte, sowohl in Bezug auf die Motivik, wie auf Stil und Farbigkeit (Pelizaeus 2013).
Seine plötzliche Berühmtheit Anfang des 21. Jahrhunderts, nicht allein in Lateinamerika, sondern gleichsam in der ganzen Welt, verdankt Rugendas einem Roman aus der Feder des argentinischen Autors César Aira. Erschienen in der spanischsprachigen Welt unter dem Titel „Un episodio en la vida del pintor viajero“, wurde der Roman in Frankreich unter dem Titel „Un épisode dans la vie du peintre voyageur“ veröffentlicht. (Arambasin 2005 : 11)3
In seinem Roman greift Aira eine Episode aus dem Leben des Künstlers auf. César Aira, der mittlerweile für den Nobelpreis für Literatur „gehandelt“ wird, konnte mit seinem Werk die Aufmerksamkeit auf einen Künstler ziehen, dem bisher wenig Aufmerksamkeit zuteil wurde. Da Rugendas zwischen Europa und Lateinamerika steht, scheint er geeignet, eine Wissenszirkulation darzustellen, bei der sich Eindrücke und kulturelle Wissensbestände aus Südwestdeutschland mit Lateinamerika miteinander verbinden. (Werner / Zimmermann 2002 : 607-636 ; Espagne 2003 : 63-75.)
Daher soll nach einem kurzen Überblick über die Biographie von Rugendas und seiner Wirkung in zwei Schritten der Frage nach den Quellen und Motiven des Romans von Aira im 19. und im 20. Jahrhundert nachgegangen werden. Ziel ist es, den unterschiedlichen Lagen der Transferprozesse folgen zu können, also im Sinne von Koselleck, die Schichten der Darstellung wie bei einem Palimpsest nachvollziehbar zu machen. (Koselleck 2000 : 9)
2. Werk und Prägung
2.1. Die Biographie des Joseph Moritz Rugendas
Geboren wurde Joseph Moritz Rugendas 1802 als Spross der seit dem 17. Jahrhundert in Augsburg nachweisbaren Künstlerfamilie Rugendas, die katalanische Wurzeln besaß. Bereits Vater und Großvater bewiesen viel Mobilität, als sie in Ungarn und auf dem Balkan das Geschehen in den Kriegen gegen das Osmanische Reich in vielen Stahlstichen einfingen. Somit konnte der junge Johann Moritz beim Vater das schnelle Erfassen flüchtiger Szenen bei gleichzeitiger Einbeziehung einer an der Natur orientierten Betrachtungsweise lernen. Andererseits war er durch die Motivauswahl bei Vater und Großvater daran gewöhnt, auch die Exzesse und die Brutalität des Krieges zu thematisieren. (Werkkatalog 1998 : 15-241)
Als Rugendas 1822 nach Brasilien aufbrach, hatte er bereits eine umfassende Ausbildung absolviert.4 Diese Kenntnisse sollten ihn dazu befähigen, trotz vielfach widriger Bedingungen einzigartige Bilder Lateinamerikas bis zu seiner Rückkehr nach Deutschland 1848 zu schaffen. So tritt uns ein Künstler gegenüber, der zwar viel unternommen, von dem sich aber kaum etwas überliefert hat. Die Tagebücher seiner Reisen kennen wir nicht, seine Korrespondenz mit Humboldt hat eher administrative Fragen zum Inhalt, so dass wir auf die Zeugnisse seiner Begleiter angewiesen sind oder eben auf seine Bilder zur Rekonstruktion seiner Reisen zurückgreifen müssen.
Die Reisetätigkeit des Künstlers war enorm, weshalb es legitim ist, von ihm als Identität stiftende Figur für ganz Lateinamerika zu sprechen. 1822 bis 1825 war er in Brasilien, es folgten Aufenthalte in Haiti, Mexiko, Guatemala, sowie Chile und schließlich Argentinien und Peru. Von dort kehrte er dann 1848 endgültig nach Deutschland zurück und starb 1858 verarmt in Weilheim an der Teck (Württemberg). Sein Schaffen umfasst mehr als 3300 Zeichnungen und Skizzen, auf deren Grundlage Stahlstiche entstanden. (Diener-Ojeda 1998 : 136-140 ; Werkkatalog 1998 : 136-140.) Diese machten ihn in Europa in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts berühmt, wo sie zwischen Deutschland und Frankreich zirkulierten. Die erste berühmte Serie waren seine Reiseeindrücke aus Brasilien, in denen er das Schicksal der Sklaven thematisierte. Die erhebliche Rezeption dieses Schaffens ist insbesondere daran erkennbar, dass in fast keiner Überblicksdarstellung über die Sklaverei seine Stiche fehlen, obschon vielfach die Reproduktion ohne Nennung des Künstlers erfolgte.
2.2. Quellenschichten
Um den Austausch zwischen Deutschland und Südamerika rekonstruieren zu können, muss zunächst die Quellenproblematik nachvollzogen werden, um dann erkennen zu können, wie Rugendas prägend auf Lateinamerika wirkte, wie seine Arbeit Bilder hat entstehen lassen, die eine große Wirkung erzielten. Schließlich kann sich der Frage der Rezeption seiner Werke und seiner Wahrnehmung im deutschsprachigen Raum zugewandt werden. Dabei soll exemplarisch das Zusammenwirken und das gegenteilige Beeinflussen von Literatur, Bildkunst und Historiographie in der Wissenstransformation beleuchtet werden. (Volmer 2010 : 171-183).5
3. Schaffung von Identität im 18. und 20. Jahrhundert
3.1. Der Roman von César Aira
Wenden wir uns zunächst César Aira zu. Er gruppiert in seinem Roman gleichsam den Spannungsbogen zwischen unbändiger Schaffenskraft und Scheitern am Wendepunkt des Lebens von Rugendas. In seinem Werk La vie d’un peintre voyageur zeichnet er zunächst das Bild eines erfolgreichen und reiselustigen Malers, der von den Eindrücken, die während der Reisen auf ihn einstürzen, überwältig ist. (Aira 2001)
Erfüllt von Schaffenskraft kommt es zum Einschnitt, als ihm in der Provinz Mendoza (Argentinien) eine Katastrophe zustößt. Der ungestüme Rugendas, der sich von dem ihn begleitenden Freund Robert Krause trennt, gerät in ein schweres Gewitter. Sein Pferd wird vom Blitz erfasst, der Reiter stürzt und verletzt sich schwer. (Aira 2001 : 34-36)
Erst am Folgetag von Krause gefunden, ist das Gesicht von Rugendas völlig entstellt. Er ist nun dazu verurteilt, sein entstelltes Gesicht („cara monstruosa“) mit einem Teil seiner Mantels, der „Capa“, zu bedecken. Doch erlaubt ihm, so erzählt Aira, seine Unansehnlichkeit nun, Dinge neu und aus der Distanz zu erfassen. Dazu gehört auch, den Überfall von Mapucheindianern auf Europäer, „Malones“, wie sie abschätzig genannt werden, beobachten zu dürfen. Drogenabhängig (Aira 2001 : 73-75, 83 ; Bogliolo 2005 : 21)6 und im Erfassungsvermögen eingeschränkt, vermag die verminderte Mobilität des Malers eine neue Intensität an Farbigkeit und Bewegung zu schaffen:
Ces multiples déploiements d’une anecdote historique qu’est à l’origine un voyage d’artiste en Argentine ne sauraient s’arrêter là : ils relèvent aussi d’une quête esthétique capable à son tour de se développer selon plusieurs axes, depuis l’étude systématique de toutes les propriétés du corps vivant qu’est la nature, jusqu’au pleinairisme, l’impressionnisme, voire le surréalisme et même une esthétique des fractals. (Arambasin 2005 : 14-15)
2013 hat sich Lucile Magnin in einer in Grenoble in Littérature hispanique abgeschlossenen voluminösen Dissertation mit Hintergrund, Fiktion und Aussagen des Romans von Aira beschäftigt und dabei die Quellen von Aira und die daraus entwickelten Narrative, welche er seinem Roman zugrunde gelegt hat, im Einzelnen nachvollzogen.7
Bei Magnin werden einerseits die Quellen und Vorbilder und andererseits die Fiktionen genau rekonstruiert und die Unterschiede zwischen Roman und Quellen minutiös aufgezeigt, weswegen ich mich hier auf wenige Linien beschränken kann.
Die Geschichte der herangezogenen Quellen ist aber deshalb in unserem Zusammenhang so interessant, weil sie auch einem mehrfachen Brechungs- und Transferprozess unterworfen waren. Aira nutze nämlich eine spanischsprachige Vorlage eines deutschen Reiseberichtes von Robert Krause, dem Begleiter von Rugendas. Grundlage für Aria sind dabei die Aufzeichnungen, die eine Nachfahrin von Krause, Gertrud Richert, in Spanisch herausgab. Dabei wählte sie aus den Tagebüchern Krauses aus, mischte aber darüber hinaus noch weitere ungenannte Quellen, die das Leben von Krause und Rugendas schilderten, hinein. Als Richert ihre Darstellung verfasste, verfügte sie über viele Briefe und Tagebuchaufzeichnungen, die mittlerweile jedoch verloren sind. (Magnin 2012 : 370-375 ; Ring 2013 : 191-194). Somit lagen Aira und der wissenschaftlichen Forschung bisher der größte Teil der Erinnerungen von Krause nur auf Spanisch vor. Hubert Ring hat sich daher 2013 dem erneuten Transferprozess gestellt und versucht, jene nicht mehr als Manuskript erhaltenen Passagen von Krause gewissermaßen „zurück zu übersetzen“, als er im 20. Jahrhundert übersetzten Passagen, die vom Deutschen ins Spanische übertragen wurden, nun wieder ins Deutsche übertragen hat, wobei er aber stets den Originaltext in Spanisch mit anführt. Dank dieses Gesamttextes kann genuiner der Frage nach der Textvorlage nachgegangen werden, welche Aira dichterisch ausgestaltet hat. (Ring 2013: 193)
So stoßen wir mittels der Übertragung der Lebensdarstellung Richerts durch Aira auf einen ersten Transferprozess: « sa fiction [repose] sur une autre fiction et que ce passage de la biographie de Richert est la préfiguration du roman de Aira, une sorte de double littéraire : Une fiction alimentant une autre fiction... » (Magnin 2012 :372). Entscheidend für das Selbstverständnis des Ausgangstextes ist dabei, dass sich die Darstellung Richerts nicht als fiktionale Biographie versteht, wenngleich sie stellenhaft romanhaft ist und auch keine Quellen genannt werden. So ist es auch Richert, im Unterschied zu der zeitgenössischen Schilderung von Krause selbst, welche die zwei zentralen Motive im Roman Airas, nämlich der Blitz und die Beschreibung der Malones, in ihre Biographie einfügt (Richert 1959).
Um gewissermaßen die „Hände“ bei den Transferprozessen scheiden zu können, können wir einen „überlieferten Kern“ herausarbeiten. Das zuerst eingebrachte Motiv ist dasjenige, dass Rugendas während eines Gewitters vom Pferd stürzt. Genau dieser Sturz wird von Aira herausgearbeitet, ihm wird gleichsam eine schicksalhafte Bedeutung zugemessen. Gleichermaßen gilt dies für den von Aira als Wendepunkt verwandten Sturz vom Pferde, nach welchem der Maler „monstruös“ ausgesehen habe (Aira 2001 : 36). Zwar, dies verfolgt Magnin detailreich, trug Rugendas eine Narbe davon, war aber keinesfalls völlig entstellt (Magin 2012 :74-75). So war Rugendas durch den Sturz von einer das Gesicht durchziehenden Narbe gezeichnet, hatte immer wiederkehrende Kopfschmerzen und ein eingeschränktes Hörvermögen, kann aber aufgrund der historischen Überlieferung nicht als Außenseiter gesehen werden. Genauso verhält es sich schließlich mit dem Aufenthalt des Malers bei den Araukanern. Rugendas hatte wohl Angehörige des Volkes der Mapuche getroffen, doch lebte er nie unter ihnen, so dass seine Bilder lediglich eine Kontextualisierung in einer von ihm erdachten Landschaft darstellen. Er war also weniger ein Imago, denn eine Imaginatio, welche seine Mapuchedarstellungen ausmachen (Horatschek 2008 : 312-313; Bengoa, 1991: 164-172).
3.2. Vorbilder: Gertrud Richert und Cornelius de Pauw
Bis zu diesem Punkt können wir der Darstellung von Magnin bei der Rekonstruktion der Vorlage folgen. Was jedoch in ihrer detaillierten Arbeit fehlt, ist die Frage nach dem „Warum“ dieser Motivik, also die Frage, warum bereits die Textvorlage von Aira, also Gisela Richert, „Blitz“ und „Malón“ aufgreift.
Es haben sich leider keinerlei Zeugnisse von Richert zur Motivation ihrer Quellenauswahl erhalten, um zu gesicherten Aussagen zu gelangen, so dass ihre Darstellung vor dem Kontext ihrer zeitlichen Entstehung hinterfragt werden muss. Zunächst ist das Bild des Blitzes als Zeichen des Umbruchs, des Neuanfangs, gerade in den zwanziger Jahren, sehr präsent. Die faschistischen Bewegungen, also sowohl die spanische Falange wie die italienischen Faschisten, bedienen sich des Motives des ‚Blitzes‘. In Argentinien wie in Chile stand die deutschstämmige Gemeinde der faschistischen und nationalsozialistischen Bewegung sehr nahe, was auch hier einen Bezug durchaus möglich erscheinen lässt (Farias 2002 : 55-58 ; González Calleja 1995 : 769-815). Die Integration von Rugendas bei den Indigenen, die dann auch in der Vorlage von Richert vornehmlich mit Rugendas Überfälle auf Siedlungen der ‚Weißen‘ unternehmen, entspricht den gespannten Beziehungen zwischen der chilenischen und argentinischen „weißen“ Bevölkerung und den „Indianern“. Nach den Feldzügen von 1878-1879 in Argentinien und dem Feldzug von 1882-1885 in Chile gegen die Mapuche hatten diese indigenen Gruppen im öffentlichen Bewusstsein allgemein eine negative Sicht als „Malones“ erfahren. Bei Richert findet sich also jene im Argentinien der zwanziger Jahre sehr präsente Komponente des „degenerierten“ Indianers (Giordano 2009 : 1283–1289 ; Pelizaeus 2013 : 147-166).
So bleibt noch der Grund für die Stilisierung der Verletzung von Rugendas als „monströs“ zu klären. Dieses Bild nämlich findet sich nämlich nicht bei Richert, sondern erst bei Aria, der diese Motivik ins Leben rief.
Um nach Gründen für die Darstellung zu suchen, blicken wir zurück ins ausgehende 18. Jahrhundert. Von Ottmar Ette wird in seiner biographischen Darstellung von Alexander von Humboldt ausführlich die sogenannte „Berliner Diskussion“ nachgezeichnet. Diese am Ende des 18. Jahrhunderts von dem Niederländer de Pauw begonnene Auseinandersetzung, die mit einem wachsenden Interesse an Amerika einherging, betonte die Minderwertigkeit der „amerikanischen Rasse“, deren Degeneration (Ette 2009 : 45-50). Zwar gab es schon damals viele Gegner dieser These, viele Autoren, die sich gegen die Ansichten von de Pauw wandten, darunter auch der Abbé Raynal oder Alexander von Humboldt, doch blieb etwas von diesem Bild auch in der Folgezeit als prägender Narrativ bestehen. (Ette 2009 : 76-83) Genau daher, so möchte es mir scheinen, wird dieses Motiv von Aira aufgegriffen. Die Verwandlung von Rugendas zum „Monströsen“ ist damit gleichsam der umgekehrte Weg: Der Europäer, der zum Monster in Amerika geworden ist, stellt im Angesicht der Indigenen das Monströse dar.8 Aira, der selten Interviews gibt, hat sich zu diesem Aspekt seiner Motivik jedoch noch nicht geäußert, so dass hier weiter diskutiert werden kann (FAZ 04.03.2004: 36 ; Paéz 2005 : 123-132 ; Contrerras 2002).
3.3. Der Mann im Schatten
Kommen wir nun zur Frage der Rezeption von Rugendas, bzw. damit verbunden zum deutschen Titel der Übersetzung von Aira.
Den Brüdern Humboldt wird derzeit viel Aufmerksamkeit geschenkt. In der Ausstellung im Observatoire in Paris „Les frères Humboldt. L’Europe de l’esprit“ wurde beiden Brüdern, Wilhelm, dem Staatsmann und Diplomat, und Alexander, dem Naturforscher und Reisenden, einige Beachtung zuteil.9 In Deutschland kann sicher von einem großen Einfluss des Romans von Daniel Kehlmann Die Vermessung der Welt gesprochen werden, der Alexander von Humboldt als recht phantasielosen Rechner darstellt. Dieser Sachverhalt hat die Frankfurter Allgemeine Zeitung dazu veranlasst, von einer „Kehlmannisierung“ der Humboldt - Forschung zu sprechen (Kehlmann 2005 ; FAZ 19.5.2014 : 9.). Gegen Kehlmanns Sicht wendet sich jedoch Ottmar Ette, der derzeit den großen Briefkorpus von Humboldt vorbereitet. Ette ist stets bemüht, nicht allein die Originalität Humboldts, sondern auch seine Vielseitigkeit, die ein Einordnen in Kategorien geradezu verbiete, immer wieder deutlich zu machen (Ette 2012).
Wenngleich somit die Bewertung Humboldts umstritten ist, so aber nicht seine Bedeutung für die Forschung insgesamt. Alexander von Humboldt gilt aufgrund seiner Reiseleistungen, aufgrund der von ihm umfangreich gelieferten Informationen zur Naturgeschichte, zur politischen Geschichte und zur Landeskunde nicht erst seit Hans Magnus Enzensberger als Titan, als ein Baum, der gleichsam alle anderen überschattet. (Enzensberger 2012)
Dieses Bild des schattenspendenden Baumes muss wohl auch bei der Titelfindung der Übersetzung des Romans von Aira beim Verlag Nagel und Kimche Pate gestanden haben. Während bei den Ausgaben auf Englisch und Französisch Rugendas der reisende Maler bleiben durfte, musste er in der deutschen Ausgabe gewissermaßen im Schatten von Humboldt Platz nehmen, da der Roman hier als Im Schatten Humboldts erschienen ist.10
Damit wird ein Bezug konstruiert, der sich so historisch keinesfalls herleiten lässt. Rugendas ist nicht einfach als Anhängsel von Humboldt zu sehen. Vielmehr hatte Rugendas durchaus eigene Pläne und hatte nach seiner Rückkehr aus Brasilien eine ganze Reihe von Zeichnungen im Gepäck. Er wird, um diese zu veröffentlichen, und dies ist bisher völlig übersehen worden, sich selbstständig um die Publikation gekümmert haben, ohne dass er der Verwendung Alexander von Humboldts bedurft hätte. Er trat nämlich an jenen Verlag heran, bei dem weder er noch sein Vater unbekannt waren. Bereits 1828 waren bei dem in Mulhouse, Basel und Paris tätigen Verlag Engelmann eine Serie von Gravuren deutscher Volkstrachten erschienen, zu denen Rugendas eine Reihe von Stichen geliefert hatte (Werkkatalog 1998 : 246-248). So liegt es nahe, dass er sein neues Projekt, nämlich die Ansichten von Brasilien, welches wegen der hohen Reproduktionskosten eine erhebliche Risikobereitschaft vom Verlag erforderte, nur mit einem Herausgeber realisieren konnte, mit dem er bereits zusammengearbeitet hatte. Zwar begann Brasilien eine gewisse Aufmerksamkeit im deutsch- und französischsprachigen Raum zu gewinnen, doch stand man mit den Anwerbewellen, wie sie von Kaiserin Leopoldine gemacht werden sollten, erst am Anfang eines Brasilieninteresses (Paul 2010). Auch das Thema der Sklaverei, welches sein Werk Voyage pittoresque dans le Brésil. Par Maurice Rugendas ; traduit de l'allemand par M. de Golbéry dominierte, war keinesfalls ein im Zentrum deutscher Diskussion stehendes Thema und auch in Frankreich konnte man noch nicht der Aufmerksamkeit einer zahlungskräftigen Kundschaft um 1820 gewiss sein (Rothmann 2009 : 169-191). Es war also wohl vornehmlich die Risikoabsicherung, die Rugendas von dem gut vernetzten Alexander von Humboldt wünschte, als er sich mit seinem Plan eines Stichwerks an ihn wandte und nicht, wie bisher angenommen, Humboldt, der Rugendas alle Wege geebnet hätte (Achenbach 2009 : 59-132).
Doch auch bei der Frage der Initiativen für die Veröffentlichung zeigt sich erneut das Überlieferungsproblem insofern, als wir, wie schon in der Diskussion um die Fiktion bei Aira, aufgrund des Fehlens der Korrespondenzüberlieferung keine gesicherten Aussagen treffen können.
4. Voyage pittoresque dans le Brésil
4.1. Aufbau des Werkes
Betrachten wir uns abschließend das Gesamtwerk von Rugendas über Brasilien näher (Werkverzeichnis 1998 : 249). Insgesamt wird der Zuschnitt auf die Stiche aus der Feder von Rugendas zugunsten des Bildteils sehr deutlich, da es als Tafelwerk vornehmlich auf die Abbildungen ausgelegt ist. Der Textteil ist hingegen kurz gehalten, kommt ohne Vorwort aus und beschränkt sich weitgehend auf Erklärung der Gliederung und des Aufbaus.
Dieses Werk, welches für die Frühphase von Rugendas stehen kann, stellt Landschaft und besonders die Bevölkerung Brasiliens vor. Im Aufbau zeigt sich, wie nicht die Landschaftsdarstellungen mit Menschen, sondern ungemein stärker umgekehrt die in der Landschaft situierten Personen im Vordergrund stehen. Dazu seien vier Einführungstexte aus der « Voyage pittoresque dans le Brésil » mit späteren Werken aus den vierziger Jahren verglichen (Achenbach 2009 : 112-128 ; Werkverzeichnis 1998 : 283-291).
4.2. Die Teile des Werkes
Le pays tel qu’il se présente à l’œil du voyageur, les caractères distinctifs que l’on aperçoit dès le premier aspect, les développemens de ces particularités que le dessin ne saurait indiquer, enfin la détermination de divisions territoriales, que nous appellerons pittoresques, par opposition à celles de l’administration politique, voilà tout ce que doit renfermer ce premier cahier. (Rugendas 1835 : « Paysages » 8)11
Es wird aus der die Stiche einführenden Textpassage über die Landschaft (« Paysages ») deutlich, dass für Rugendas die Hervorhebung der Landschaftsmarken wichtig ist, die Betonung jener Punkte und Einschnitte, welche als „natürliche“ Begrenzungen im Gegensatz zu den politischen verstanden werden konnten.
Les diverses races d’hommes que l’on remarque dans les États du Nouveau Monde et l’immense variété qui les caractérise, offrent à l’observateur, à l’homme d’État, au citoyen, l’aspect le plus intéressant que les sociétés humaines puissent présenter. On dirait que la civilisation a voulu égaler ou même surpasser les richesses dont la nature fait briller le règne animal et le règne végétal. (Rugendas 1835 : « Portraits et costumes » 56)
In der Einleitung der Darstellung der Kostüme (« Portraits et costumes »), eines Feldes, auf welchem Rugendas einige Erfahrung vorweisen konnte, hob er die Reichhaltigkeit, mit der sich die Bekleidung der Bewohner vor dem Auge des Betrachters entwickelte, hervor.12
Ganz im Sinne eines Naturbeobachters betonte Rugendas in der Einleitung des Kapitels « Mœurs et usages des Indiens » darauffolgend zunächst noch seine Verlässlichkeit in der Abbildung, um dann aber zu einer Bewertung zu kommen, welche, ganz im Sinne von Georg Forster, den negativen Einfluss des Kulturkontaktes mit den Europäern herausstellte. Wie Forster fordert er daher auch eine weitgehende Isolation der Indigenen von der europäischen Kultur:
Après avoir donné, dans le premier cahier de la deuxième division un aperçu général de l’histoire des tribus sauvages du Brésil, et des changemens produits par leur contact avec les Européens, nous allons tracer un tableau plus spécial de leur état actuel. Cet état est loin d’exciter d’agréables sensations, et n’offre de l’intérêt que sous un petit nombre de points de vue. Le voyageur, quand il a satisfait sa première curiosité, est bientôt obligé de s’avouer à lui-même que l’homme, dans l’état de nature, est aussi loin de plaire à l’œil, qu’il l’est de présenter rien d’agréable à la pensée. La douloureuse impression qu’on en reçoit s’accroît encore quand on songe que, sans l’arrivée des Européens, les naturels auraient déjà fait des progrès marquans dans la civilisation : ils auraient, à la vérité, marché sur une route différente de la nôtre, mais cette route convenait mieux à leur nature. (Rugendas 1835 : « Mœurs et usages des Indiens » 90)
Rugendas betonte in seiner Einleitung der Darstellung (« Mœurs et usages des Indiens»), dass die Sklaven sich bereitwillig unterwerfen würden. Er hob aber hervor, dass diese Bereitschaft im Schwinden begriffen sei und ergriff im folgenden Passus für die Sklaven Partei:
Cet intérêt se manifeste librement et sans aucune contrainte, et si l’on compare ces nouvelles habitudes avec l’ancienne obéissance passive, avec cette muette soumission à tous les ordres venues de la métropole, sentimens qui étaient le caractère dominant de toutes les colonies des États de l’Europe, et surtout de celles de l’Amérique méridionale [...] (Rugendas 1835 : « Vie des Européens » 11, 128).
Er verwahrte sich anschließend in dem Kapitel (« Mœurs et usages des nègres ») nicht allein gegen ihre Ausbeutung, sondern mehr noch gegen die damit verbundene Begründung, insofern er sich dagegen aussprach, es ginge den Afrikanern in der Sklaverei gut, ja so gut, dass selbst Arbeiter in Europa gerne ihr Schicksal teilen würden:
Une chose incontestable, c’est que beaucoup d’hommes d’un grand mérite ont écrit sur l’esclavage des Nègres [...] Les tableaux chargés ou infidèles qu’ils nous ont faits du malheureux état des Noirs, ont nui à la bonne cause dont ils voulaient assurer le succès [...] Avec son défaut ordinaire de mesure et de discernement, il [le public] a de suite accordé son approbation [...] en affirmant que l’esclavage n’a rien de pénible, que non seulement le sort des Nègres est seul pour lequel la nature les ait faits, mais encore qu’ils sont tellement heureux que, si les Européens de la classe ouvrière le savaient, il pourrait bien en résulter une concurrence fâcheuse pour les Noirs. (Rugendas 1835 : « Mœurs et usages des Nègres », 142)
In seinem Frühwerk, und hier insbesondere in den einführenden Textpassagen, stehen also sowohl im Bild (vgl. die Abb. in: Rugendas 1835) als auch im Text die Personen im Mittelpunkt. Die Landschaft spielt lediglich als Folie, als Begrenzung des Bildhintergrundes eine Rolle, ihr kommt aber noch nicht die Bedeutung zu, die sie dann im Spätwerk erhält. (vgl. die Abb. in: Achenbach 2009 : 112-128). Wenngleich sich über seine verschiedenen Ansichten aus Argentinien kein Kommentar überliefert hat, so sticht doch die häufige Darstellung der Landschaft ohne Menschen ins Auge, obschon zu konstatieren ist, dass diese Motivik schon vor seinem Sturz vom Pferd eine Rolle spielte. Denn selbst wenn dieses Ereignis für sein Leben sehr prägend war, ist doch eine Änderung seiner Betrachtungsweise in Bezug auf die Landschaftsdarstellungen nicht mit diesem Vorfall in Verbindung zu bringen, sondern tauchte eben bereits vorher in seinen Werken auf. Über die Gründe kann nur spekuliert werden, doch es liegt nahe, dass den Künstler die Weite der argentinischen und chilenischen Landschaften derart faszinierte, dass er einen stärkeren Schwerpunkt auf Landschaftsdarstellungen zu legen begann, als dies noch in Brasilien der Fall war.
Genau diese neue Sicht bei Rugendas ist nun die Bewegung hin zur veränderten Identitätsformierung.13 Denn das Wesentliche sind in der Folge die Landschaftsdarstellungen, die mal ohne Figuren festgehalten werden und sukzessive auch mit Einzelskizzen von Personen gefüllt werden, die dann mehrheitlich in größeren Landschaften auftauchen. Mit der Zuordnung von regionalen Charakteren in bestimmte Landschaftsumgebungen vermag Rugendas eine regionale Identität festzuhalten, die in der Retrospektive wirkmächtig wird und daher auch in Lateinamerika das große fortdauernde Interesse an seinem Oeuvre verständlich werden lässt.
4.3. Deutscher Orientalismus?
Johann Moritz Rugendas hat eine bis heute nicht zu unterschätzende Bedeutung für die Entstehung von Bildern als Vorbilder von „Kulturlandschaften“. So finden wir bei ihm bis zum heutigen Tage wirkmächtige Mythen, so die des Gaucho in einer bestimmten national verorteten Ikonographie oder des Malón, der durch ständige Überfälle die Zivilisation bedroht. Rugendas hat mit seinem Werk Erinnerungsorte von herausragender Bedeutung geschaffen, die kaum an ihrer Prägekraft verloren haben (Pelizaeus 2015). In Südamerika waren, anders als in Afrika, Grenzen weitgehend vorgegeben, aber gerade für die ikonographische Identitätsbildung sollte Malern wie Rugendas eine bedeutende Rolle zufallen.
Vor dem Hintergrund der Bedeutung von Maler und Oeuvre überrascht es daher, dass er im deutschsprachigen Raum weiterhin hinter Humboldt versteckt, in seinem Schatten untergebracht wurde. Ist in Frankreich und England die Bedeutung der „Peintres voyageurs“ unbestritten, so gilt dies für Deutschland keinesfalls (Thornton 2001 : 4-17). Die Malerei des „Orientalisme“ (Segalen 1995), die mit den „Peintres voyageurs“ verbunden wird, wurde von deutschsprachigen Künstlern wie Ludwig Deutsch, Rudolf Ernst und natürlich dann Paul Klee, August Macke und Franz Marc erst Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts aufgegriffen (Thornton 2001 : 70-73, 80-85, 140-141, 180-183). Verbunden mit dem erst spät beginnenden deutschen Kolonieerwerb begannen Maler aus deutschsprachigen Ländern erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in die arabische Welt zu reisen.14 Es gab aber, und dies wird noch nicht ausreichend berücksichtigt, eine durchaus umfassende und bedeutende Gruppe von deutschsprachigen „Orientalisten“ in Lateinamerika neben Rugendas, so beispielsweise die Maler Ferdinand Konrad Bellermann oder Franz Keller-Leuzinger, deren Rückbezüge zur Malerei und der Literatur des Orientalismus jedoch noch nicht untersucht wurde (Achenbach 2009 : 133-210). Für diese Maler wäre vergleichend verstärkt nach ausgewählten Motiven, künstlerischen Einflüssen und Parallelen mit dem „Orientalismus“ zu fragen.15 Denn Aira weist europäischstämmigen Malern sehr ähnliche Motivationen zu, wie wir sie teilweise auch für Maler annehmen können, die in den Nahen Osten gingen: « Rugendas appartient au monde d’en haut, origines familiales, européennes, talent artistique, le voilà attiré par celui d’en bas: le bout du monde, l’indien marginal, le sol sur lequel son cheval va le traîner et le défigurer. » (Aira 2001 : 51).
5. Zusammenfassung
Mit Joseph Moritz Rugendas sind wir einem Maler begegnet, dessen Leben durch Reisen und durch einen unterschiedlich intensiven Austausch mit der Bevölkerung in verschiedenen Staaten Lateinamerikas bestimmt war. Die Sicht des Malers verschiebt sich während seines Lebens insofern, als seine Werke in der Frühphase die Interaktion mit der Bevölkerung betonen, wohingegen die späteren Bilder eine die Zirkulation hervorhebende Landschaftsdarstellung zum Inhalt haben. Da er seine Reisen, so auch jene nach Argentinien, bei der er vom Pferd stürzte, nicht alleine, sondern in Begleitung des Tagebuchschreibers Rudolf Krause unternahm, konnte César Aira eine Bresche schlagen. In Europa wird dem Leser die Biographie von Rugendas und seine Bedeutung erst über den Transferprozess, eben die Zirkulation, die den Weg Europa - Argentinien und zurück nimmt, bewusst.
Es konnte aufgezeigt werden, wie das Figurenpaar „Circulation – interaction“ nicht allein für Deutschland, sondern eben durchaus auch für deutschsprachige Kulturschaffende im Ausland von Kontinent zu Kontinent von Interesse ist, weil gerade dort durch die Translation in andere Sprachen weitere Prozesse der Transformation entstehen können und prägend wirken. Damit veränderten sich im Rahmen des Zirkulationsprozesses die Ausgangsformen insofern, als sich die doppelte Übermittlung Bild-Text in der Form der Textüberlieferung weiter entwickelte. Die Schlüsselszenen der fiktionalen Teile des Romans von Aira wurden dabei nicht von ihm, sondern vielmehr in Zusammenhang mit einem bestimmten historischen Kontext entwickelt. In vielen Ländern Lateinamerikas ist im Rahmen des Transferprozesses ein nationaler Bezug zu Rugendas, eine gewisse nationale Assimilation, entstanden. Zwar stellt dies einerseits eine Verengung von Rugendas dar, weil er somit vielfach national vereinnahmt wird, andererseits es aber zu einem bemerkenswerten Adaptionsprozess eines deutschen Künstlers in Lateinamerika gekommen, der auf diesem Kontinent zu einer Integrationsfigur geworden ist.