1. Theoretischer Rahmen
1.1 Gestaltung der gesellschaftlichen Wirklichkeit
Lange Zeit gilt schon die Schrift als wichtigstes Kommunikationsmittel der menschlichen Wissenstradierung, obwohl es nicht immer so war und vielleicht auch nicht immer so bleibt. Die Höhlenzeichnungen in Lascaux sind zwar schon 20.000 Jahre vor Christus als visuell erzählte Jagdgeschichten der menschlichen Erinnerung entstanden, aber die Geschichte der Schrift begann erst 17 Jahrhunderte später (vgl. Jean 1991: 11). In Mesopotamien wurden anfangs mit geometrischen Formen versehenen Steinchen für das Rechnen benutzt, die als calculi1 benannt wurden. In dem naheliegenden Ägypten wurde eine Schrift aus dreier Zeichentypen entwickelt, die aus Piktogrammen, stilisierten Zeichnungen und Ergänzungen bestanden. Durch ihre unterschiedliche Kombination waren sie auch zum Ausdruck abstrakter Begriffe fähig (ebd.: 27-28). Mit einem großen Sprung im Mittelalter ankommend sieht man in den generell lateinsprachigen Kirchen überall Bilder, die der breiten Masse der des Lesens und Schreibens Unkundigen Zugang zu den biblischen Geschichten gewähren sollten.
Seit der Erfindung des Buchdrucks beginnt die mehrere Jahrhunderte lang andauernde Dominanz der Schrift in der Wissensvermittlung. Mit der weltweiten Verbreitung der Massenmedien Rundfunk und Fernsehen ist ihre zentrale Rolle jedoch immer mehr ins Schwanken geraten. Gleichzeitig sind zwei gegensätzliche Tendenzen zu beobachten: Einerseits sind Lesen und Schreiben zur Teilnahme am gesellschaftlichen Leben nicht mehr unerlässlich. Andererseits werden heute mehr Medienprodukte veröffentlicht denn je. Die Hegemonie der rein textbasierten Wissensvermittlung ist allerdings vorbei.
Das durch unterschiedliche Kommunikationsformen tradierte gesamtgesellschaftliche Wissen besteht aus “komplex vermittelte[n] Bewusstseinsinhalte[n], die als kognitive Repräsentationen von unmittelbaren und mittelbaren Erfahrungen abgeleitet sind” (Spitzmüller/Warnke 2011: 41). Ekkehard Felder formuliert noch knapper: “Wissen ist nicht, Wissen wird gemacht“ (Felder 2013: 13). Demnach kann man nicht von der ontologischen Gegebenheit von Wissen ausgehen, sondern es wird von Akteuren im Laufe eines Diskurses argumentativ hervorgebracht. Ihr Interesse richtet sich in erster Linie nicht an Wahrheit und Richtigkeit, sondern an Plausibilität und Überzeugungskraft. Da Wissen zwecks der Verständigung sprachlich gebunden ist, ist es auch perspektivisch und interessengeleitet (vgl. Felder 2009: 13 und Felder 2013: 15-16). Dadurch entsteht das Problem der Referenz: Die Aussagen verweisen im Diskurs nicht nur auf außersprachliche Wirklichkeiten, sondern bringen diese hervor.
Die aus dieser Sprachgebundenheit des Denkens und aus der Relativität des Wissens resultierenden Möglichkeiten werden in der Werbung völlig ausgeschöpft: Werbung „verwertet zunächst einen bestimmten gesellschaftlich geteilten Diskurs, einen Vorrat populärer Themen (samt Einstellungen dazu). Indem [sie] bestimmte Argumente und Sichtweisen vorträgt, realisiert [sie] einen Diskurs und schreibt ihn zugleich fort, d.h. prägt sozial verfügbare Wissensbestände“ (Stöckl 2003: 309).
Werbungen der Fahrradzeitschriften verwerten Diskurse einer viel engeren und einheitlicheren gesellschaftlichen Gruppe, bei der gewisse fachliche Vorkenntnisse und Vorlieben mit Recht angenommen werden können. Die Themen (Fahrräder, ihre Ersatzteile und Zubehör) und das primäre Ziel der Werbungen (Verkauf von diesen) sind übersichtlicher und homogener als die der Gesamtgesellschaft, aber dadurch können auch ihre Mittel und ihre Darstellungsart spezieller sein.
1.2. Multimodalität und Werbung
Dem Werbeforscher Behrens nach (1975) kann Werbung als absichtliche Beeinflussung aufgefasst werden. Bei den Rezipienten soll dadurch eine Änderung in der Einstellung zum jeweiligen Gegenstand der Werbung erfolgen, die sie zur Ausübung einer mit den Werbezielen im Einklang stehenden Handlung bewegt (vgl. Janich 2005: 18-19). Die Werbung als „inszenierte Form der Kommunikation“ (ebd.: 32) wird in den Anzeigen von Printmedien durch das Zusammenwirken dreier Kommunikationsmittel – der Sprache, ihrer visuellen Erscheinungsform der Schrift und des Bildes – verwirklicht. Wenn – wie im vorigen Kapitel schon angesprochen – Wissen und Denken sprachlich verankert sind und Sprache interessengeleitet und perspektiviert ist, kann davon ausgegangen werden – bloß wegen der Tatsache der intendierten Beeinflussung –, dass auch Schrift und Bild interessengeleitet und perspektiviert sind.
Heute wirkt die seit den 1930er-Jahren mehr oder weniger allgemeingültige Devise, dass Druck und Typographie unsichtbar sein sollen, überholt (vgl. Spitzmüller 2010: 100): „Allein die Wahl der Schrift kann den Inhalt eines Wortes manipulieren“ (Spiekermann 2004 bei Spitzmüller 2010: 103). In gewisser Hinsicht kann hier der Horizont erweitert werden, indem die Schrift nicht nur als Typografie, sondern auch als visuell kodierte kommunikative Konkurrenzform der gesprochenen Sprache betrachtet wird. Als einfacher Beleg lässt sich dazu das bekannte Wortspiel im Song Du hast von der Rockband Rammstein zitieren:
Du.
Du hast.
Du hast mich.
Du hast mich gefragt.
(Rammstein 1997: Du hast.)
Je nach Interpunktion (Komma, Ausrufezeichen, Punkt, Auslassungspunkte) kann die Bedeutung und die erwartete Fortsetzung der Sätze in der Schrift variieren, aber in den Zeilen 2-3 lässt nur die Wahl der gesprochenen Sprache den Konnotationsrahmen des Verbs hassen eröffnen, weil ein eindeutiger Unterschied zwischen hast und hasst nur in der Schrift zu empfunden ist.
Laut Werbeforschungen besteht in den letzten Jahrzehnten in den Werbungen im Rahmen der ständig schneller werdenden Kommunikation auch eine Tendenz von immer weniger Information (Sprache) zu mehr Bild und von Offline-Medien in Richtung online (vgl. Kroeber-Riel/Esch 2015: 17): „Es wird weniger gelesen, als vielmehr geblickt und geklickt“ (Schmitz 1997: 138)2. All dies führt dazu, dass eine gegenwärtige massenmedial verbreitete Botschaft aus einem komplexen multimodalen Zeichengefüge mit interagierenden Konstituenten wie Sprache, Bild, Grafik, Farbe, Typografie, Ton, Musik, usw. besteht. Mit der Erscheinung der multimodalen Hypertexte als rhizomatische, nicht zentrierte und nicht hierarchisch aufgebaute Textgefüge sind die Zeichen „weder nur linear (durch Schrift) noch hauptsächlich flächig (durch Layout), sondern auch noch über ein vielgestaltiges unsichtbares Netzwerk miteinander verbunden, dessen Verflechtungen ad hoc sichtbar gemacht werden können“ (Schmitz 1997: 145).
Die Informationsüberlastung ist heute derart groß, dass Leser und Leserinnen sich durchschnittlich zwei Sekunden Zeit fürs Anschauen von Anzeigen in Printmedien gönnen (vgl. Kroeber-Riel/Esch 2015: 22). Erst nach dieser ersten und schnellen Selektierung, kommt es zu einer noch immer die Effektivität und Ökonomie in den Vordergrund stellenden top-down Verarbeitung der jeweiligen Werbung, „die darauf zielt, die grundlegende Struktur des Kommunikats zu verstehen, seine Argumentation, seine Geschichte (story/plot) und jeweils hervorstehende Eigenschaften“ (Stöckl 2011: 20).
Werbung muss daher immer einfacher sein und die Kunden und Kundinnen schneller erreichen können. Dies führte zu einem radikalen Wandel von Anzeigen, der nicht nur ihre Gestaltung, sondern auch ihren Inhalt betrifft: Seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts kann eine signifikante Erhöhung der Anzahl von Bildelementen bei Anzeigen in Printmedien belegt werden, die auch immer größer werden. Dies geht mit der Reduzierung der Länge und der Anzahl der Wörter in den Schlagzeilen und Fließtexten einher (vgl. Kroeber-Riel/Esch 2015: 26). Der inhaltlichen Änderung der Bilder liegen sowohl psychologische als auch kommunikative Ursachen zugrunde: Wegen der geringeren Gehirnanstrengung können Bilder schneller als Texte aufgenommen werden und sie wirken auch erlebnisvoller und unterhaltsamer (ebd.: 24), darüber hinaus sind sie „rezeptionsschnell, aufmerksamkeitsintensiv, gedächtniseffektiv, unmittelbar emotionsverbunden sowie informations- und konnotationsreich“ (Stöckl 2003: 316). Stöckl hebt noch in Anlehnung an Novitz (1977) auch ihre flexible Anwendbarkeit und ihre Rolle in der Realisierung von Sprechakten wie Präsentieren, Warnen, Werben, Verbieten oder Instruieren hervor (vgl. Stöckl 2004: 95). Die Überflut an Werbung hat darüber hinaus auch einen weiteren, den Inhalt beeinflussenden Nebeneffekt, dass heute nur noch 20% der Bildmotive das Produkt selbst zeigt, den Rest übernimmt die Darstellung der Zielgruppe, um ihnen eine leichtere Identifikation zu gewähren (vgl.: Kroeber-Riel/Esch 2015: 42).
1.3. Nötige Erweiterung des linguistischen Beschreibungsapparats
Die Verflechtung der sprachlichen, parasprachlichen und nichtsprachlichen Zeichen im heutigen massenmedialen Kommunikationsangebot ist meistens so stark, dass sie ihr volles Bedeutungspotenzial ohne einander nicht mehr entfalten können. Dieser Wandel im Verhältnis von Bild und Sprache ebnet auch innerhalb der Linguistik den Weg zu neuen Erkenntnissen und zur nötigen Erweiterung des Beschreibungsinventars (vgl. Fix 2001: 114 und Opiłowski 2013: 218): Hinsichtlich der Anzeigenwerbungen kann zum Beispiel eine Erscheinung der Text-Bild-Syntax beschrieben werden, wenn „a) das beworbene Produkt abgebildet ist und b) Headline bzw. Slogan elliptisch formuliert sind“ (Szurawitzki 2017: 107). Die Begründung liegt in der Tatsache, dass in solchen Fällen die Bild- und Textebene einen grammatisch vollständigen Satz bilden können (ebd.: 107).
Schmitz (2011) vertritt die Auffassung, dass in visuellen Präsentationen die Aussage auf einen Blick erfasst werde und er führt dem Desiderat der Erweiterung des linguistischen Beschreibungsapparats genugtuend zwei neue Begriffe ein: Die Sehfläche und das Design. Unter Sehflächen versteht er „Flächen, auf denen Texte und Bilder in geplantem Layout gemeinsame Bedeutungseinheiten bilden“ (Schmitz 2011: 85). Sie bilden also das Spielfeld, wo Sprache und Bild und ihre Organisationsprinzipien Grammatik und Design miteinander in Interaktion treten können. Design ist in der Terminologie von Schmitz die Ordnungsform für Gebrauchsgegenstände und Sehflächen. Es wird daher als Vermittler zwischen Text und Bild angesehen, dessen Aufgaben in der Verbindung von Nutzen (Ergonomie) und Geschmack (Ästhetik) liegen. Bestehe noch in der Funktion von Grammatik als Ordnungsform der Sprache und (Sehflächen-)Design als Ordnungsform von Text und Bild gewisse Ähnlichkeit, gibt es in ihrer Rezeption schon beachtliche Abweichungen. Grammatik verfügt nämlich über eine lineare und hierarchische Struktur, bei der die gesellschaftliche Wirklichkeit aus dem Zusammenfügen von kleinen Elementen mittels einer bottom-up Methode konstruiert wird. Bei dem Design und den Bildern gibt es solche Teilelemente wie Buchstaben, Wörter oder Sätze nicht, daher ist ihre Rezeption top-down geleitet und frei von der Linearität (ebd.: 86-87.)
2. Methodologischer Hintergrund der Analyse
Eine integrative linguistische Analysemethode zur Erfassung der Komplexität der multimodalen Zeichensysteme in der Gestaltung der gesamtgesellschaftlichen Wirklichkeit bietet das Mehrebenenmodell pragmasemantischen Zugriffs von Nina-Maria Klug (2017: 73-85).
Das Mehrebenenmodell zur holistischen Analyse multimodaler Texte und Diskurse besteht aus drei Ebenen, die als konzentrische Kreise vorgestellt werden, „die immer enger um das gesellschaftliche Wissen gelegt werden können, das sich in dem zu untersuchenden multimodalen Text oder Diskurs niederschlägt“ (ebd.: 77). Gesucht werden die Antworten auf die altbekannten rhetorischen Fragen: Wer? Was? Wann? Wo? Warum? Wodurch? Worüber? Wie?
Ebene I: Analyse des kommunikativ-pragmatischen Rahmens
Auf der ersten Ebene wird die pragmatische Kontextualisierung der zu untersuchenden Texte vorgestellt. Die Antwort wird auf folgende Fragen gesucht:
- Wer sind die Agierenden (Produzenten und Produzentinnen, Rezipienten und Rezipientinnen) der Texte? Wie ist ihre interpersonelle Beziehung? Welche Diskurspositionen und Interessen haben sie?
- Wann und wo wurden diese Texte produziert? Wie sind die zeitlichen, räumlichen, kulturellen Verstehensrahmen der Texte?
- Durch welche Medien (Printmedien, Audiomedien, audiovisuelle oder digitale Medien) und warum wurden die Texte verbreitet? Welche Zeichenmodalitäten wurden ermöglicht? Welche Stellung und Machtposition haben diese Medien? Was waren die kommunikativen Ziele? (Ebd.: 77.)
Ebene II: Makroanalyse
Auf dieser Ebene wird die Makroanalyse der Texte dargestellt. Hier werden die textuellen und diskursiven Binnenstrukturen, die Art und Weise der Wissenskonstitution und der Kommunikation analysiert. Im Mittelpunkt der Makroanalyse können folgende Fragen stehen:
- Wie kann das Potenzial der Zeichenmodalitäten beschrieben werden? Wo liegen die semiotischen Vorteile (Darstellungsbonus) und Nachteile (Darstellungsmalus) nichtsprachlicher Modalitäten gegenüber der Sprache? Was können sie besser und was können sie nicht oder nur mit mehr Aufwand darstellen?
- Wie ist ihr Emotionalisierungs- und Plausibilisierungspotenzial?
- Wie ist der strukturelle Zusammenhang der verschiedenen Zeichenmodalitäten?
- Welche Rolle spielt die Multimodalität bei der intra- und intertextuellen Themenentfaltung?
- Welche Teilfunktionen haben verschiedene Zeichenmodalitäten im Text oder Diskurs? (Ebd.: 77-78.)
Ebene III: Mikroanalyse
Die Ebene der Mikroanalyse beschreibt das gesellschaftliche Wissen selbst. Sie bemüht sich um die Beschreibung des denotativen (darstellenden) und deontischen (Befürwortung oder Ablehnung ausdrückenden) Wissens. Die Analyse richtet sich sowohl nach expliziten als auch nach impliziten (stereotypen, standardisierten, nicht ausgesagten) Inhalten, die meist verkürzt oder nur zwischen den Zeilen ausgedrückt werden. Auf dieser Ebene werden die isoliert oder symbiotisch vorkommenden Frames, konzeptuellen Metaphern oder Argumentationsmuster (Topoi) beschrieben (ebd.: 78).
3. Analyse der Werbeanzeigen
In den Mountainbike-Zeitschriften findet man generell zwei Arten von Anzeigen: Anzeigen für Fahrräder und Anzeigen für Ersatzteile und Zubehör. Vermutlich werden wegen der Komplexität und des leicht identifizierbaren Verwendungszwecks der Fahrräder (z. B. Downhill, Enduro, All Mountain, Cross-Country usw.) ihre Werbeanzeigen einfacher und weniger kreativ gestaltet als die von den Ersatzteilen. Abgesehen von wenigen Ausnahmen können grundsätzlich zwei größere Typen der Fahrradanzeigen unterschieden werden: Bei dem ersten wird das statisch eingestellte Fahrrad seitlich abgebildet – eventuell mit einem für das jeweilige Modell charakteristischen Landschaft im Hintergrund. Die Textebene erstreckt sich von einem kurzen Slogan mit Modellbenennung bis hin zu den langatmigen Ersatzteillisten und eventueller textlastiger Vorstellung der angewandten neuen Technologien. Den zweiten Typ bilden die Darstellungen mit Aktionsfotos. Ein Subtyp dieser Kategorie ist die Abbildung mit bestimmten gesponserten Rennfahrern samt Nennung ihrer Rennerfolge, um zu zeigen, was alles im Sattel des jeweiligen Fahrrads machbar ist.
Bei einem vergleichsweise viel einfacheren Ersatzteil wie ein Sattel, ein Lenker oder sogar ein Schlauch ist, kommt es im Kampf um die Aufmerksamkeit der potenziellen Kunden viel mehr auf Kreativität und dem Darstellungsbonus der multimodalen Zeichensysteme an.
Der vorliegenden Studie liegen drei Werbeanzeigen als Analysematerial zugrunde, um Beispiele für dieses Darstellungspotenzial der multimodalen Elemente liefern zu können. Die erste Anzeige besteht jedoch aus vier Teilen, die eine einheitliche Anzeigenserie bilden und bei der dritten werden drei Designvarianten derselben Anzeige je nach veröffentlichendem Medium thematisiert. Es handelt sich jeweils um Werbungen für Fahrrad-Ersatzteile in Mountainbike-Magazinen. Allesamt stammen sie aus den zwei größten deutschsprachigen Magazinen für den Mountainbike-Sport – Bike (04/2019) und Mountainbike Magazin (07/2020). Eine dieser Anzeigen ist auch online auf der größten deutschen Internetseite für den Mountainbike-Sport, MTB-News (abgerufen am 06.16.2022) erschienen und bietet somit eine ideale Basis zum Vergleich der unterschiedlichen Gestaltungsmöglichkeiten der Text- und Bildelemente.
Wegen der thematischen und kontextuellen Ähnlichkeit dieser drei Anzeigen wird ausschließlich eine Anzeige auf allen drei oben vorgestellten Ebenen durchgeführt. Bei den darauffolgenden zwei wird nur die Rolle der multimodalen Zeichensysteme in der Wissenskonstitution ausführlicher thematisiert.
3.1. Beispielsanalyse: Werbung für SQlab Satteltechnologie
Ebene 1: Pragmatisch-kommunikativer Rahmen
Die einheitliche Werbeserie des Sattelherstellers SQlab erschien in der größten gedruckten deutschsprachigen Mountainbike Fachzeitschrift Bike im Frühling 2019. Dieses Magazin ist zwar deutschsprachig, aber es hat sich in seiner mehr als dreißigjährigen Geschichte mit seinen ausführlichen und präzisen Tests und eigens entwickelten einzigartigen Messmethoden als internationales Leitmedium etabliert.
Der Großteil der Leserschaft ist wegen der gefährlichen und extremen Natur des Mountainbike-Sports männlich und kommt überwiegend aus der aktiven und junggesinnten Altersgruppe 25-45 mit überdurchschnittlicher Kaufkraft. Das Magazin versucht in erster Linie den Geschmack dieser Zielgruppe zu befriedigen.
Selbstverständlich kann kein Medienprodukt ohne Werbung wettbewerbsfähig bleiben und auch in der Fahrradindustrie lässt sich die gegenseitige Abhängigkeit der Hersteller, der Fahrradindustrie und der Medienprodukte erkennen, da ungefähr 25-30% der Seiten pro Heft für Werbungen freigegeben sind. Die kleine ‒ ergonomische Sättel, Griffe und Lenker produzierende ‒ deutsche Firma, SQlab, hat eine vierteilige Werbung auf vier nacheinander stehenden Halbseiten veröffentlichen lassen.
Der Firmenname deutet schon auf das Leitmotiv der hinter den Produkten stehenden Grundidee hin, wie es auf ihrer Internetseite zu lesen ist:
Asklepios (deutsch: Äskulap) gilt in der griechischen Mythologie als der Gott der Heilkunst. Mit seinen magisch heilsamen Kräften galt er als jener, der die Kunst des Heilens beherrschte wie kein anderer. Eine typische Darstellung des Äskulap ist ein bärtiger Mann, der sich auf einen Stab stützt, der von einer Schlange umschlungen ist.
Schlange (Natter) wurde schließlich zum Symbol der Heilkunst und ist noch heute in zahlreichen pharmazeutischen und ärztlichen Einrichtungen als solches zu finden. Wir bei SQlab legen bei der Entwicklung unserer Produkte in Zusammenarbeit mit zwei spezialisierten Ärzten höchsten Wert auf Ergonomie und Gesundheit beim Radfahren und haben somit unseren Namen dem Gott der Heilkunst in abgeänderter Schreibweise angepasst und symbolisch mit dem Sattel, der von einer Schlange umschlungen wird, im Logo vervollständigt. (https://www.sq-lab.com/ueber-uns/meilensteine/abgerufen am 10.05.2020)
Ebene 2: Makroanalyse
Die auf vier nachfolgenden Seiten präsentierte Werbung ist auf den ersten Blick eine Anzeigenserie für die Fahrradsättel der Firma SQlab. Näher angeschaut kommt man zu der Feststellung, dass es sich hier einerseits eher um eine einzige Werbung handelt, die in vier, strukturell völlig identischen Teilen geteilt ist, andererseits wird hier nicht für ein konkretes Sattelmodell geworben, sondern generell für die SQlab Satteltechnologie. Jeder einzelne Teil hebt eine wichtige Eigenschaft dieser Technologie hervor. Diese sind: Druckentlastung, Breitenanpassung, Mitbewegung, kleines Gewicht.
Jeder der vier Teile folgt dem klassischen Werbemuster der Einstellungsbeeinflussung: Erst wird ein Appell an ein Bedürfnis gestellt (meistens in Form von einem Bild) und dann wird die das Bedürfnis deckende Information über das Angebot (meistens als Text) präsentiert (vgl. Kroeber-Riel / Esch 2015: 62). Bei dieser Anzeige wird das Bedürfnis immer durch eine humorvolle Text-Bild-Einheit dargeboten. Die Textebene dieser Einheit (Schlagzeile) ist immer als kurze rhetorische Frage formuliert (z.B. Taube Nudel? in der Abbildung 1) und reflektiert generell eine negative Eigenschaft der Sättel und des Sitzens (Taubheitsgefühle, Druck, eingeschränkte Bewegung). Der letzte Teil der Frage wird typografisch immer mit der Farbe Orange hervorgehoben (wie Nudel in der Abbildung 1).
Im Text-Bild-Bezug ist die Bildebene die Quelle des Humors, der entweder durch die visuelle Präsentation der kontextfremden zweiten Bedeutung eines Ausdrucks in der Schlagzeile entsteht (vgl. taub als dekliniertes Adjektiv und Taube als Substantiv) oder durch ihre einfache, aber witzige Illustration, wie die auf ihrem Rücken liegende Schildkröte der Abbildung 3. Aus der Sicht der multimodalen Analyse ist das erste von größerem Interesse, weil es dabei um polyseme Wörter geht und die Darstellung ihrer zweiten Bedeutung visuell ‒ im Bild von der Taube oder von der Semmel ‒ erfolgt. Da es keine multimodale Notwendigkeit der Bildinterpretation zum Verstehen des (Text)Inhalts gibt, dient das Bild einzig dem Humor und nicht dem Verstehen der ursprünglich gemeinten Werbebotschaft: Taube sollte am Anfang der Frage als Adjektiv verstanden werden, aber das Bild von dem Vogel Taube hebt die Bedeutung als Nomen hervor und öffnet somit eine zweite, aber falsche Interpretationsmöglichkeit. Die Nudel ‒ in bewusst stehender Position dargestellt ‒ steht dagegen als Metapher für das männliche Glied und erweitert damit ihren Deutungsbereich. Bilder haben einen Überlegenheitseffekt, also sie „konstituieren sich aus besonders wahrnehmungsnahen Zeichen, die interessanter als Sprache erscheinen, schneller erfasst und nachhaltiger erinnert werden können, u.a., weil sie anders als Sprache holistisch rezipiert und auf ikonischem Wege der referenziellen Ähnlichkeiten interpretiert werden können“ (Klug 2017: 81). Nudel hat dagegen eine euphemistische oder metaphorische Bedeutung für die Referenz des männlichen Glieds.
Das englische Wort bun oder buns bedeutet in der zweiten Anzeige (Abb. 2) sowohl Semmel (ist abgebildet) als auch Po, und seine sprachliche und visuelle Darstellung folgt demselben Muster. Die sexuelle Konnotation wird auch in diesem Fall im Feldkraft der multimodal gebildeten Zeichenstruktur hergestellt ‒ sprachlich: Po und das Verb passen sowie seine englische Variante fit, visuell: das Bild von der Wurst und den stehend positionierten Sätteln. Diese senkrechte Darstellung3 als Symbol der Männlichkeit ist ein gewohnter Werbetrick, die auch unter der Konkurrenz beliebt ist, wie man es z. B. auch in der Sattelanzeige der Firma Ergon (Abb. 5)4 sehen kann.
In der folgenden Texteinheit (Wie alle wissen, …) wird der in der Schlagzeile als Frage formulierte Problemkreis sprachlich genauer zusammengefasst. Am Anfang steht immer der deiktische Halbsatz (Wir alle wissen) mit dem Ziel der Aktivierung des Zugehörigkeitsgefühls und des gemeinsamen Wissens über die Mountainbike-Fahrer betreffenden Probleme.
Im ersten Teil des Fließtextes wird die Art der Hilfe immer in einem einzigen Satz erläutert (z.B. Abb. 1: Das SQlab Stufensattelsystem bietet für jeden Einsatzbereich die richtige Entlastung.), der als abschließendes Rahmenelement der Anzeige auch visuell in einer Text-Bild-Einheit noch einmal wiederholt wird (z.B. Abb. 1: ein Seitenbild des Sattels mit dem Text Mehr Freiraum – Weniger Druck), wobei die multimodalen Konstituenten teils additiv teils komplementär5 zusammengefügt werden.
Den abschließenden Teil des Fließtextes bilden jeweils vier unvollständige Sätze mit deiktischer Personenstruktur (z.B. Abb. 2.: Deine Größe. Dein Einsatzbereich. Dein Sattel. Deine Entscheidung.), die nicht mehr an die allgemeine Gruppe der Mountainbike-FahrerInnen adressiert, sondern individuell auf den konkreten Leser bzw. Leserin zugeschnitten sind. Das zentrale Organisationselement ist das Possessivpronomen dein, das als Anapher am Anfang der Sätze wiederholt wird. Durch die Interpunktion wird die Verständlichkeit zusätzlich gesteigert und es kommt dadurch zu einer eindeutigen Segmentierung der Wissensbestände mit einem ‒ in jeder Anzeige wiederholten und typografisch mit der Farbe Orange hervorgehobenen ‒ Appell (Deine Entscheidung) als aufmerksamkeitssteigendes Schlusselement. Durch diese für die Werbeanzeigen typische elliptische und flexionsfreie Formulierung kann der Information eine erhöhte Dichte verleiht werden.
Das letzte sprachliche Element der Anzeige (#mehrbums) ist ein eindeutiges Anzeichen der intertextuellen Verweise. Einerseits wird es visuell durch den in den online Hypertexten üblichen Hashtag markiert, andererseits verweist das Wort Bums auf unterschiedliche Inhalte. Laut dem Universalwörterbuch Duden ist es ein „dumpf tönender Schlag, Stoß, Aufprall” (Duden 2007: 343). Dieses Geräusch ertönt auch bei harten Landungen nach dem Sprung mit einem Mountainbike auf steinigen Downhill-Strecken. Hier liegen die Wurzeln einer Werbekampagne für ein Sondermodell, das eigens für den Münchener freeride Profi Tibor Simai unter dem Motto Leistungssteigerung durch perfekte Ergonomie = Mehr Bums!6 entwickelt wurde. Die Ausdrücke Bums und Leistungssteigerung passen sich natürlich dem sexuellen Konnotationsrahmen der ganzen Werbeanzeige an – vor allem, weil durch Bums auch die saloppe Verbvariante des sexuellen Beisammenseins evoziert wird. Die dadurch angedeutete sexuelle Assoziationskette wird in der zweiten Schlagzeile (Abb. 2) durch das ähnlich klingende englische Wort bun(s) (dt. Po, Hintern) fortgesetzt.
Mit Blick auf das Layout kann festgestellt werden, dass keine der Modalitäten (weder die Sprache noch das Bild) dominiert. Anstatt einer Integration der einen Modalität in die andere erscheinen beide Modalitäten einander ergänzend vor einem neutralen weißen Hintergrund. Die humorvolle Wirkung können sie aber nur zusammen entfalten.
Die grau-orangene Farbkombination des Logos wird konsequent in der ganzen Werbung beibehalten. Die letzten Wörter der Schlagzeilen (wie z.B. Nudel als Metapher für das männliche Glied und dem Benutzer oder Leser überlassene Entscheidung über den Schutz dessen) werden jeweils durch parasprachlichen Zeichen (der für intensive Gefühle stehende Signalfarbe Orange) hervorgehoben.
Ebene 3: Mikroanalyse
Beim Anschauen beliebiger Werbeanzeigen ist das zuerst aktivierte Wissen das Wissen über die Werbung selbst. Werbung ist nämlich von so starker soziokultureller Prägung, dass es bei ihrer Entwicklung von Textsortenerwartungen und entsprechenden Vorkenntnissen der Rezipienten ausgegangen werden kann. In Anlehnung an Bendel können diese Kenntnisse wie folgt zusammengefasst werden:
Werbeanzeigen sind
a) kürzere, in sich geschlossene Texte, die
b) in einem Printmedium erscheinen,
c) durch typografische Massnahmen vom redaktionellen Text abgetrennt sind, in denen
d) über Produkte und Dienstleistungen informiert wird, welche
e) in grösserer Qualität oder über längere Zeit zu haben sind und
f) einem potenziell unbegrenzten Kundenkreis angeboten werden, mit dem Ziel,
g) die Empfänger zum Kauf bzw. zur Benützung des Angebotenen zu bewegen (Bendel: 1998: 16).
Obwohl diese Eigenschaften der historischen Werbeanzeigen nach wie vor gültig sind, müssen aus heutiger Sicht kleine Ergänzungen gemacht werden. Aus einer modernen Werbeanzeige ist nämlich die Bildebene bzw. die visuelle Darstellung nicht mehr wegzudenken, wodurch eine Bild-Text-Einheit entsteht. Die Textfunktionen erschöpfen sich nicht ausschließlich im Informieren, sondern können auch persuasive, emotionsweckende, appellierende und identifizierende Funktionen aufweisen. Darüber hinaus sind die Werbetexte semantisch verdichtet, inszeniert, expressiv und prägnant (vgl. Perlina 2008: 90).
Der weiße Hintergrund steht für die pharmazeutische und medizinische Sauberkeit, die als Wissenskonstitution Teil des Firmennamens ist: Einerseits Äskulap, der griechische Gott der Heilkunst mit der eigens angepassten Schriftweise und zweitens die Kurzform vom Labor, wo die Produkte mit größtmöglicher Sorgfalt hergestellt werden.
Die von oben nach unten symmetrischen Parallelitäten der beiden Modalitäten führen den Leser und die Leserin bzw. den Betrachter und die Betrachterin vom Problem Taubheitsgefühle im Dammbereich bis hin zur Lösung SQlab hilft!, SQlab passt! und Mehr Freiraum – Weniger Druck. Das explizite und allgemeinbekannte Wissen der Mountainbiker über Taubheitsgefühle an den Kontaktstellen des Körpers am Fahrrad während langen Fahrten wird mit der Prädikation Wir alle wissen angedeutet. Die Folgen evozieren die Frames von romantischen Treffen bzw. geplatzten Rendezvous, die jedem männlichen Leser peinliche Erlebnisse hervorrufen und somit emotionell stark geladen sind.
In der Mitte steht immer das Versprechen als Prädikation, also die sprachlich ausgedrückte und sehr kurz formulierte Lösung selbst: SQlab hilft! oder SQlab passt! und die kurze Erklärung der Methode (Stufensattelsystem), die für die nötige Entlastung der empfindlichen Bereiche sorgt.
Die Schilderung des Problems deutet implizit auf einen schlechten und unbequemen Sattel hin ‒ womöglich auf ein Modell der Konkurrenz ‒, der ausgetauscht werden sollte (deontisches Wissen). Der darauffolgende Teil des Argumentationsmusters überlässt dem Leser und der Leserin die Wahl mit den kurzen Possessivpronomen-Strukturen (z. B. Dein Freiraum. Dein Sattel. Weniger Druck. Deine Entscheidung.). Bei der letzten Setzung wird der Apell auf die eigene Verantwortung (und somit implizit auf den Kauf eines neuen Sattels) mit der parasprachlichen Hervorhebung verstärkt.
Im letzten Teil wird die neuartige Lösung des SQlab Sattels in beiden Modalitäten einander ergänzend bzw. illustrierend dargestellt.
Bei dieser Werbung liegt der Mehrwert der Multimodalität in erster Linie nicht in ihrem besseren Erklärungsvermögen, sondern in der Möglichkeit der Darstellung eines anderen pragmatischen Rahmens. Mit dem Bild der Taube und der Semmel wird bewusst ein falscher Kontextualisierungsweg eröffnet und die humorvolle Wirkung der Werbung entsteht aus dieser Manipulation des Kontextes (vgl. Tátrai 2011: 66).
3.2. Beispielsanalyse 2: Ergon GXR Lenkergriff
Im Folgenden werden wir drei Varianten derselben Anzeige sehen, bei denen (mit grundsätzlich unverändertem sprachlichem Teil) die unterschiedliche Wirkung primär von dem Unterschied der Sehflächen also vom Design und dadurch von der andersartigen Interaktion der multimodalen Zeichenkomplexe abhängt.
Bei der horizontalen Anordnung der Bild-Text-Elemente kommt die Wichtigkeit der Seh- und Leserichtung eindeutig zum Vorschein. Es gibt nämlich einen dynamischen Vektor von links nach rechts. Deswegen entsteht das subjektive Gefühl des Steigens beim Anschauen einer Diagonale von links unten nach rechts oben und das des Sinkens bei einer Diagonale von links oben nach rechts unten (vgl. Arnheim 1979: 46). Wegen dieses Effekts wirken Gegenstände auf der rechten Seite eines Bilds dermaßen größer, dass einer der größten ungarischen Maler, Munkácsy Mihály seine Gemälde in der Endphase des Schaffungsprozesses oft auf der linken Seite erweitern musste, um das ursprünglich geplante Gleichgewicht zwischen den zwei Seiten zurückherstellen zu können (vgl. Malonyai 1907: 148). Forschungen haben bewiesen, dass die Zuschauer im Theater nach dem Aufgehen des Vorhangs erst nach links schauen, oder dass links-rechts Bewegungen als leichter empfunden werden, während die rechst-links Bewegung als große Anstrengung wie gegen den Strom Schwimmen wahrgenommen wird (vgl. Arnheim 1979: 47-48). Zahlreiche Belege dieses Effekts sind auch in Katalogen von Fahrrädern und ihren Ersatzteilen zu finden. Jeder Gegenstand, bei dem es eine charakteristische Bewegungsrichtung und eindeutige Links-, Rechts- und Frontseitigkeit identifiziert werden können, wird von der rechten Seite fotografiert. Auf dem Hauptfoto der Fahrräder, der Schaltwerke, der Vorbauten, der Sättel oder der Fahrradschuhe zeigen diese deshalb immer nach rechts als Bewegungsrichtung (siehe Abb. 1 und die kleinen Fotos auf der Abb. 5).
Gemäß dieser links-rechts Sehrichtung und zwecks der Beibehaltung des Gleichgewichts wurde das großformatige Produktbild (des schwarzen und schräg stehenden Lenkergriffs) bei der online Variante der Anzeige (Banner) (Abb. 6) in der waagerecht liegenden Anordnung links platziert, während die viel kleineren Bilder der Farbvarianten mit dem Textinhalt rechts auf der anderen Seite nebeneinander. Das horizontale und kleine Bannerformat lässt solche Designmöglichkeiten nicht zu, die zu einer erweiterten Konnotationsmöglichkeit und zur tieferen Vernetzung der multimodalen Zeichensysteme führen können, wie wir es bei der folgenden zwei senkrecht stehenden und von der Werbefläche her größeren Varianten (Abb. 7 und 8) sehen können.
Der Kern des Inhalts ist die schon ätherische Leichtigkeit, als einzig hervorzuhebende Eigenschaft des neuen Lenkergriffs. Diese Botschaft wird mittels Design als Organisationsprinzip der Text-Bild Elemente (vgl. Schmitz 2011: 86) verstärkt auf mehreren Ebenen vermittelt. Die Entfaltung des völligen Wissenspotenzials über die Eigenschaft leicht erfolgt durch eine komplexe multimodal verankerte Assoziationskette.
Auf der Textebene gibt es vier Textbausteine: Links oben stehen der Firmenname (Ergon) und der englischsprachige Slogan (Bike ergonomics) mit dem kreisförmigen Firmenlogo, die für die Imagebildung und für die leichte Identifizierbarkeit der Firma verantwortlich sind (vgl. Janich 2005: 48).
Die dritte Einheit bilden die aus einem einzigen Wort bestehende und prädikativ formulierte Schlagzeile (Airgonomic) und die darunter stehende Unterüberschrift oder Subheadline (vgl. Janich 2005: 45). Diese Zeile mit dem adjektivischen Produktnamen (Der neue GXR) und der kurzen Hervorhebung der wichtigsten Eigenschaften (Ergonomie leicht gemacht) kann in der Terminologie von Zielke allerdings auch als Fazit ziehender Abbinder (Claim) im Sinne eines Merkspruchs aufgefasst werden (vgl. Zielke 1991: 85).
Die zwei weiteren Texteinheiten (German Innovation und Made in Germany) sind Adds mit der Funktion zur Erhöhung der vermeintlichen Produktqualität und der Glaubwürdigkeit (ebd.: 72). Zusammen mit dem Verweis auf die Herkunft des Produktes wird auch der Topos der deutschen Ingenieurkunst aktiviert.
Im Rahmen dieser Arbeit wird der Fokus auf das Zusammenwirken von Sprache und Bild gelegt, deshalb eignet sich vor allem die Schlagzeile ideal für das Ziel der Analyse. In diesem einzigen Wort Airgonomic kommt nämlich die multimodale Verflechtung in einer ziemlich hohen Dichte zum Vorschein ‒ Form und Inhalt sind perfekt aufeinander abgestimmt. Die Text-Bild-Einheit entsteht durch die visuelle Darstellung des Produktes (hier des Lenkergriffs) und durch die elliptisch formulierte Schlagzeile als Sprachspiel (airgonomic = ergonomisch). Die intendierte Botschaft wird in diesem Fall durch das Zusammenspiel von Design und Grammatik vermittelt. „Deshalb ist vollendete grammatische Korrektheit für das Verständnis nicht so wichtig wie in herkömmlicher (monomodaler) Schriftlichkeit“ (Schmitz 2011: 80).
Der Aufmerksamkeitssteigerung dient die ähnliche Aussprache der englischen und der deutschen Wörter (ergonomic und ergonomisch). Beide Wörter evozieren auch den Firmennamen (Ergon). Dank dem Austausch der ersten Silbe (er-) durch das klangidentische englische Wort Air wird ‒ gemäß der Werbeabsicht ‒ der Assoziationsrahmen der Leichtigkeit eröffnet. Die Entfaltung des völligen Wissens- uns Assoziationspotenzials über Luft und Leichtigkeit erfolgt durch die Verwendung unterschiedlicher multimodaler Zeichensysteme.
Die schlichte, schlanke und serifenfreie Typografie wirkt einfach und leicht, ohne zusätzliche visuelle Hervorhebung oder Betonung des Wortes Air. Hinsichtlich der Anordnung der Text-Bild-Elemente im Sinne der Schmitzschen Sehflächen-Theorie (vgl. Schmitz 2011: 85) gibt es zwei Varianten der senkrechten Gestaltung, die trotz ihrer Ähnlichkeit unterschiedliche Assoziationen ermöglichen.
In der Abbildung 7 wurde mittels des Designs aus dem schlanken, streifenartigen Platzangebot Nutzen gezogen. Gegenüber der gewohnten top-down Sehweise wird der Effekt des Steigens mit der nach oben immer breiterer Anordnung der Text-Bild-Elemente erzielt und damit wird der Blick von unten nach oben geführt. Durch die darüber hinaus noch symmetrische Gestaltung lässt sich auch das Bild der Leiter hervorrufen, die ein so stark in die menschliche Psyche verankertes Symbol fürs Aufwärtskommen ist, dass sie sogar von den Urmenschen in die Wände ihrer Höhlen gekratzt wurde ‒ noch bevor sie sie überhaupt angerichtet hätten (vgl. Molnár V. 1995: 39). Der ungarische Ethnograf und Forscher von Kinderzeichnungen, József Molnár V. weist darauf hin, dass die ‒ vor allem in den Zeichnungen von Jungen aus dem Kindergarten ‒ als Leiter gezeichneten Beine bei der Darstellung von menschlichen Figuren mit der Sucht nach dem Erwachsenwerden, nach dem Licht von oben und damit eigentlich nach einem schaffenden himmlischen Wesen zu identifizieren sind7 (vgl. Molnár V. 1995: 40).
Die Abbildung der drei Farbvarianten folgt auch dem globalen Werbeziel zur Erzeugung der Leichtigkeit und schmiegt sich mit der Anordnung in das Bild einer Leiter durch die untere Positionierung der schwerwirkenden dunkleren Farben, die nach oben gehend immer heller, also leichter sind.
Auf der breiteren Variante der Anzeige (Abb. 8) weist die Gestaltung der Bild-Text-Elemente kein geometrisches Ordnungsprinzip auf. Sogar das neue und ergänzende Textelement, ein informativer Fließtext (Das neue GXR aus …) zur Beschreibung der wichtigsten Produkteigenschaften ist scheinbar arbiträr gegliedert und angeordnet worden. Hier fällt alles auseinander. Durch die großräumigen und luftigen Leerflächen und den nach oben halbwegs aus dem Bild ausfallenden Lenkergriff, was auch den durch die obigen Textelemente gebildeten Bildrahmen sprengt, entsteht das dynamische Gefühl der Hebung, des Aufwerfens, des Fliegens und letztendlich wiederum der Leichtigkeit.
Die Farbgebung des ganzen Bildes dient auch der Hervorbringung der Assoziation der Leichtigkeit: Das Gewichtsempfinden von der Hintergrundfarbe Hellblau steht generell für Luft (vgl. air) und wird als sehr leicht wahrgenommen (vgl. Behrens 1996: 58). Die Helligkeit wirkt darüber hinaus auf die emotionalen und kognitiven Bereiche, also die helle und transparente weiße Farbe der Wolken strahlt Heiterkeit und Herzlichkeit (ebd.: 59-60). Dieser Effekt wird noch mit der vorbeifliegenden Wolke am unteren Teil des Griffes gesteigert, die den Lenkergriff transparenter wirken lässt und verleiht dem Bild somit eine dreidimensionale Raumtiefe, als ob der Griff wirklich zwischen den Wolken schweben würde.
3.3. Beispielsanalyse 3: SKS Airflex Pumpe
Bei der Anzeige der SKS Airflex Pumpe sind wir Zeugen der eindeutigen Dominanz der Bildebene, die einerseits den Inhalt der sprachlichen Ebene illustriert (Darstellung des Produkts und seiner sprachlich verfassten wichtigsten Eigenschaft der Flexibilität), andererseits etwas stark Emotionelles konnotiert, was dem Produkt eigentlich nicht eigen ist.
Auf der minimalistischen Textebene erscheinen nur drei Informationen: Der Modellname (Airflex), die durch das Adjektiv neu erweiterte Benennung des Modelltyps (Die neue Schlauch-Minipumpe) und die Schlagzeile (Die Kunst der Flexibilität).
Die Wissensdomäne Kunst evoziert immer etwas Erhabenes, Tiefes und ästhetisch Schönes, also etwas Gesteigertes. Durch die Abbildung einer Frau in Yogapose wird demnach die Wissensdomäne Bewegungs- oder Tanzkunst aktiviert. Im Zusammenhang mit (der Abbildung) einer Pumpe geht es jedoch eher um eine einfache Steigerung zwecks der Betonung der Flexibilität der Pumpe.
Achim Zielke unterscheidet drei funktionale Bildtypen: Key Visual, Catch Visual und Focus Visual (vgl. Zielke 1991: 81-84). Bei dieser Anzeige entsteht die Wirkung aus dem Zusammenwirken und der Verschmelzung der ersten zwei in eine einzige Bildeinheit.
Das Key Visual stellt das Produkt selbst dar und hebt seine wichtigste Eigenschaft, die Flexibilität des Schlauchs vor. Die unter der Pumpe in harmloser Yogapose abgebildete Frau als Catch Visual (Blickfang) ermöglicht mit ihrer Positionierung den Konnotationsrahmen Objekt der sexuellen Begierde8. Mittels Design als Organisationsprinzip der Sehflächen kommt es zur Verschmelzung der zwei Bilder: Durch das Key Visual (die Pumpe selbst) und das Catch Visual (die Frau) wird der konnotative Inhalt in einem einzigen Bild (mit der Pumpe als sexuell aktiver Mann über der Frau mit leicht ausgebreiteten Beinen) evoziert. Diesem von der Werbeindustrie häufig benutzten Werbetrick liegt der auf Aristoteles zurückgehende und oft zitierte Kerngedanke der Gestaltpsychologie, dass das Ganze mehr als die Summe seiner Teile ist, zugrunde, was sich nicht nur auf der Bildebene, sondern – durch das mehrmals wiederholte Schlüsselwort flexibel – auch auf der Textebene vollzieht.
Im Modell der Verhaltensbeeinflussung durch Werbung werden drei grundsätzliche Beeinflussungsziele festgelegt: Aktualisierung, Emotion und Information (vgl. Kroeber-Riel/Esch 2015: 58). Die Dominanz der emotionalen und visuellen Beeinflussung drängt bei dieser Anzeige alles andere in den Hintergrund. Die mager gehaltene Textebene hat im Vergleich zur Bildebene nur einen einzigen informativen Mehrwert, der sich in dem auch typografisch (mit der Farbe Orange9) hervorgehobenen prädikativen Adjektiv neue äußert.
Die Rolle der Emotionen bei (Kauf)Entscheidungen ist jedoch nicht zu vernachlässigen. Die These, dass die rationale Beurteilung dem emotionalen Eindruck vorausgehe, ist neueren neurowissenschaftlichen Forschungen zum Opfer gefallen: Gehirnverletzte können nämlich nicht einmal einfache Entscheidungen treffen, wenn Gehirnbereiche für Emotionen verletzt waren (ebd.: 59).
4. Fazit
Die multimodale Diskursanalyse fragt danach, wie die Sprache mit anderen (syntaktischen, semantischen, funktionalen) Zeichenmodalitäten interagiert, wie Wissen durch Sprache und andere Zeichenmodalitäten (trans)textuell konstituiert, repräsentiert, weiterentwickelt und etabliert wird. Die Sprache ist daher immer Teilgegenstand der linguistischen Text- und Diskursanalyse multimodaler Ausrichtung.
Wenn auch manche Inhalte nur mit Hilfe des sprachlichen Inventars vermittelt werden können, kann die Sprache ihre zentrale Rolle in der Wissensvermittlung in bestimmten Werbeanzeigen verlieren. Diese Tendenz zeigen zum Beispiel viele Werbungen der Mountainbikes in den Fahrradzeitschriften, bei denen die textuelle Ebene in der Angabe des Modellnamens und eines für das jeweilige Modell charakteristischen Adjektivs oder knappen Satzes als Haupteigenschaft erschöpft. Gleichzeitig gewinnen Bild, Ton, parasprachliche und nichtsprachliche Zeichen an Bedeutung und etablieren sich als gleichrangige semiotische Konstituenten, die die Werbebotschaft hervorbringen. Schmitz hat darauf hingewiesen, dass die Aufgaben, die in monomodalen (rein schriftlichen) Texten mit grammatischen Mitteln gelöst werden, in multimodalen Texten auf Sehflächen durch Design bewältigt werden (vgl. Schmitz 2011: 82). Die im Rahmen dieses Beitrags analysierten Anzeigen können als weitere Belege auch für die Untersuchungen von Kroeber-Riel/Esch angesehen werden, dass Text in den Werbungen immer knapper und einfacher wird (vgl. Kroeber-Riel/Esch 2015: 17). Die moderne Schriftlichkeit zeigt nämlich eine Tendenz von der syntaktischen Komplexität her zur Einfachheit und Komprimierung hin. Je mehr Aufgaben das Design und dadurch das Bild übernimmt, desto mehr kommt es „zu syntaktischer Einfachheit, Elliptifizierung und Fragmentierung“ (Schmitz 2011: 99). Grammatik kann im Extremfall sogar völlig entfallen. Wie das auch in der vorliegenden Arbeit gezeigt wurde, sind die multimodalen Zeichensysteme keine Konkurrenzformen, sie sollen nicht als hierarchische Struktur angeschaut werden, sondern als ein zielgerichteter, wechselseitiger Zeichenkomplex, dessen Konstituenten zwecks der Aufgabenbewältigung zusammenwirken und kooperieren (ebd.: 100).