In den von uns analysierten Daten1 werden zwei Gruppenidentitäten stereotyp konstruiert: der Identität der Ingroup (dem „Wir“, welches prototypisch auf Deutsch „der Westen“ und auf Französisch „l'Occident“ ist) wird die Identität der Outgroup („der Islam“) entgegenstellt. Ein Mittel der Gruppenidentitätskonstruktion ist die Verankerung der beiden Gruppen in der Geschichte, d.h. ihre Verknüpfung mit geschichtlichen Epochen oder Figuren. Diese Historisierung der Identitäten wird im Folgenden „Vergeschichtlichung“ genannt: Gemeint wird damit die Verbindung der beiden Gruppen mit Geschichtsepochen.
Theoretischer Rahmen und Fragestellung
Der theoretische Rahmen, auf den wir uns berufen, ist die französischen Diskursanalyse2 („Ecole française d'analyse de discours“. Siehe Charaudeau / Maingueneau 2002, Maingueneau 1987,1999, 2009). Wir stützen uns vor allem auf die Theorien der Äußerung („analyse de l'énonciation“3). Da wir auch die Gesprächsdimension des Korpus in Betracht ziehen, spielt die Interaktionsanalyse in unserer Studie eine große Rolle (Kerbrat-Orecchioni 2001, 2005).
Unser Anliegen ist es, in sprachwissenschaftlicher Perspektive die Auto- und Heterostereotype, die anhand der Vergeschichtlichung konstituiert werden, an den Tag zu bringen. Ziel der Analyse ist auch, das deutsche und französische Korpus zu vergleichen, um zu überprüfen, ob die Selbst- und Fremdidentitäten auf gleiche Art und Weise konstruiert werden. Die Fragestellung zielt darauf, folgende Fragen zu beantworten: Mit welchen Epochen werden jeweils die Ingroup und die Outgroup assoziiert? Inwiefern können diese Verknüpfungen als Stereotype erfasst werden? Welche linguistischen Mittel tragen zur Stereotypisierung bei? Was kann man über die pragmatischen Effekte dieser Stereotypisierung sagen?
Begriffserläuterung: Sem- vs. Soz-Stereotyp
In der Fachliteratur werden zwei Verwendungsweisen von „Stereotyp“ unterschieden: „Soz-Stereotype“ und „Sem-Stereotype“ (Klein 1998).
Der erste Begriff, auch „Denkstereotyp“ genannt, weist auf eine stereotype Denkform hin. Die Hauptmerkmale der „Soz-Stereotype“ sind folgende: eine starke Schematisierung und somit signifikante Vereinfachung des komplexen Bezugsobjekts, das häufige Verwenden und Umfassen weniger Merkmale (Klein 1998, Amossy / Herschberg-Pierrot 2005).
Die „Sem-Stereotype“ hingegen, die auch als „Sprach-Stereotype“ bezeichnet werden, weisen auf die linguistische Form der Äußerung hin. Nicht, bzw. nicht nur die implizite Vorstellung sondern vor allem der Formaspekt der Redeeinheit, das Bezeichnende, ist stereotyp, d.h. festgelegt. „Sem-Stereotype“ sind Forschungsobjekte der Semantik, aber auch der Analyse von Sprichwörtern (Schapira 1999).
In diesem Paper widmen wir uns der Analyse von Soz-Stereotypen. Es ist unser Anliegen zu zeigen, dass die konstruierten Gruppenidentitäten Stereotype sind: Sie konstruieren homogene und vereinfachte Gruppenbilder. Die somit an den Tag geförderten kollektiven Stereotype werden in der Rede des Einzelnen aktualisiert, wobei sie schon vorher existieren und zirkulieren. Wichtig ist, dass die Autostereotype dazu beitragen, das Image des Anderen zu skizzieren, und dass umgekehrt die Heterostereotype das Stereotyp der Ingroup konstruieren (Amossy / Herschberg-Pierrot 2005)
Gliederung
Zuerst sollen die linguistischen Merkmale der Auto- und Heterostereotype herausgestellt werden (1). Dann soll in Form einer Typologie näher auf den Inhalt der Fremd- und Selbstvergeschichtlichungen eingegangen werden (2). Ferner sollen die pragmatischen Effekte der beschriebenen Auto- und Heterostereotype beobachtet werden (3). Und schließlich sollen die Dissens-Fälle untersucht werden (4).
1. Linguistische Merkmale der Stereotypisierung
Das Einbetten der Selbst- und Fremdidentität in der Geschichte kann aus zwei Gründen als Denkstereotyp gesehen werden: Der erste Grund ist die Rekurrenz bestimmter Merkmale innerhalb des Korpus, der zweite Grund bezieht sich auf die Ebene der Äußerung und auf die Dialogizität (im Sinne Bachtins)
1.1. Rekurrenz der Geschichtsverweise
Die Geschichtsepochen oder -stadien, mit denen die kollektiven Identitäten in Beziehung gesetzt werden, sind immer wieder dieselben: Der „Westen“ („l'Occident“) und das „Wir“ werden mit der Moderne, der Aufklärung, dem Humanismus, der Renaissance und der historischen Figur von Voltaire in Verbindung gebracht. Der Islam hingegen wird mit dem Mittelalter, dem Zurückgebliebensein und dem Mangel an Moderne assoziiert. Diese Elemente der Vergeschichtlichung sind innerhalb der französischen und der deutschen Daten wiederkehrend. Wir haben es also mit festen, homogenen und wiederkehrenden Zügen der Vergeschichtlichung zu tun: Dies ist ein erstes Indiz dafür, dass die Vergeschichtlichungen stereotyp sind.
1.2. Von der individuellen zur kollektiven Verantwortungsübernahme
Die Analyse der Äußerungsebene (d.h wie der einzelne Sprecher sich zu dem von ihm Gesagten verhält, ob er z.B dafür die Verantwortung übernimmt4 oder ob er sich vom Gesagten distanziert) einerseits und die Analyse der dialogalen und dialogischen5 Behandlung der Vergeschichtlichungen andererseits sind aussagekräftig, da sie von der Akzeptanz und der Zirkulation6 der konstruierten Gruppenidentitäten zeugen.
1.2.1. Übernommene Vergeschichtlichungen
Wir stützen uns auf die französische Äußerungstheorie, die zwischen Sprecher und Äußerndem, bzw. Äußernden unterscheidet. Diese Unterscheidung entwirft Ducrot im Rahmen seines Polyphoniekonzeptes. Sie wird dann unter anderem von Rabatel aufgegriffen und weiterentwickelt (Rabatel 2009). Pérennec liefert eine einleuchtende Erklärung der Ducrot'schen Unterscheidung zwischen Sprecher und Äußerndem:
Der Ursprung dieser Analyse [der Analyse von Ducrot] liegt in der Annahme, bzw. Feststellung, dass der Sprecher als Konstrukt der Linguisten im Gegensatz zur allgemein geltenden Meinung keine einheitliche Figur darstellt. Hier beruft sich Ducrot ausdrücklich auf Bachtin, der in seinem Aufsatz Das Wort im Roman auf sogenannte hybride Konstruktionen hingewiesen hatte. Es gibt nämlich Fälle, wo der Sprecher in seinen Diskurs Wörter, Ausdrücke einspannt, für die er offensichtlich die Verantwortung nicht übernehmen will oder kann. Es ist, als ob der Sprecher seinen Redebeitrag als Dialog zwischen mehreren Stimmern inszenierte. Diese Stimmen, die dem Sprecher nicht gehören, nennt Ducrot énonciateur, also Äußernde: Der Sprecher, der für die Äußerung verantwortlich sei, verleihe durch diese Äußerung anderen Äußernden eine sprachliche Existenz, deren Ansichten und Stellungsnahmen er inszeniert. (Pérennec 2001: 151)
Die Vergeschichtlichungen im Korpus sind dadurch charakterisiert, dass in den meisten Fällen der Sprecher, der mit dem Äußernden identisch ist, keine Distanz zum dem Gesagten nimmt:
Beispiel 1 (Mots croisés)7
PL Je regrette que par exemple (..) l’islam se soit replié sur lui-même au moment où l’Europe décollait il y a cinq siècles (...) l’Europe partait avec la Renaissance (.) et c’est devenu (...) ensuite la puissance occupANTE (..) d’un monde islamique (..) qui AVAIT (..) porté la science et la modernité (..) pendant (...) plusieurs siècles et qui tout d’un coup se repliait (.) et qui aujourd’hui se sent humilié je le sais/ (...)
Beispiel 2 (Menschen bei Maischberger)
HM Das entsteht doch aus dieser Theokratie (..) aus einer Religion (..) die im Mittelalter stehen geblieben ist (..) wo der Staat und die Kirche identisch sein sollen
In den beiden Beispielen gibt es keine Diskrepanz zwischen Sprecher und Äußerndem: Der Sprecher/ Äußernde übernimmt die Verantwortung für das Gesagte, wobei die Vergeschichtlichungen als unproblematisch erscheinen.
1.2.2. Präkonstuierte Vergeschichtlichungen
Einen interessanten Fall stellt folgender Abschnitt aus Pièces à conviction dar: In diesem Turn inszeniert der Sprecher einen unbestimmten Äußernden, das „on“.
Beispiel 3 (Pièces à conviction)
JMR: Jean-Marc Roubaud
JMR Aujourd’hui quelle est la réalité la France .h elle est multi (.) culturelle .h multi-religieuse .h multi-raciale .h on me parle de Montesquieu de Voltaire (.) c’est ma culture c’est mes racines .h mais dans mon raisonnement hexagonal
In diesem Zitat wird die Identität der Ingroup („la France“) konstruiert: erstens durch die Charakterisierung „elle est multi (.) culturelle .h multi-religieuse .h multi-raciale“, zweitens durch ihre Verbindung mit historischen Figuren. Nennenswert ist, was die Äußerungsebene betrifft, dass die Verbindung der Ingroup mit Montesquieu und Voltaire dem „on“, d.h. dem undefinierten, unpersonalen Pronomen, zugeschrieben wird. Das Pronomen „on“ ist hier stellvertretend für die Doxa, die Stimme der allgemein geltenden Meinung (Fløttum / Jonasson / Norén 2007: 136, Berrendonner 1981). Gleich danach taucht wieder das Ich als Sprecher /Äußernder auf, der die Verantwortung für diese Vergeschichtlichung übernimmt („c’est ma culture c’est mes racines“). Der Satz „on me parle de Montesquieu de Voltaire“ beinhaltet eine Vergeschichtlichung der Ingroup, die stereotyp ist. Satztempus ist das Präsenz: Die Ungenauigkeit der Zeitangabe erweckt den Eindruck einer immer geltenden und immer wieder geäußerten Aussage. Das Tempus und das Pronomen „on“ sind Indizien dafür, dass diese Vergeschichtlichung „präkonstruiert“ ist (Charaudeau / Maingueneau 2002: 464, Paveau 2006): Sie gehört zum „bereits Gesagten“ (Charaudeau / Maingueneau 2002: 464).
Der Begriff des „Präkonstruierten“ ist ein zentraler Begriff der französischen Diskursanalyse, er steht in enger Verbindung mit dem Begriff des „Interdiskurses“ (Charaudeau / Maingueneau 2002: 325, 464)8. Maingueneau erklärt einleuchtend, dass der „Interdiskurs“ die gleiche Beziehung zum „Diskurs“ hat wie der „Intertext“ zum „Text“ (2009: 77). Ein Diskurs kann nicht als eine von den bereits existierenden Diskursen isolierte Einheit erfasst werden. Er interagiert immer, explizit oder implizit, mit anderen Diskursen, die unabhängig und außerhalb schon existieren, mit der Masse des schon Gesagten. Die Diskurse, auf die ein besonderer Diskurs explizit oder implizit Bezug nimmt, sind als sein Interdiskurs zu verstehen. Die Begriffe des „Interdiskurses“ und des „Präkonstruierten“ sind für die Problematik des Stereotyps von besonderer Bedeutung. Stereotype sind als kollektive Vorstellungen zu verstehen, die vor dem einzelnen Diskurs geformt sind. Sie gehören zur Doxa und werden von einzelnen Sprechern aktualisiert.
Dass die Vergeschichtlichungen öfters präkonstruiert sind und in ihrer Zirkulation aktualisiert werden, zeigt auch folgendes Beispiel:
Beispiel 4 (Hart aber fair)
MF: Michel Friedman
MO: Moderator
MF Das Problem das wir haben ist doch dass zum Beispiel das was wir jetzt hier diskutieren außerordentlich zivilisiert ist (...) und dass NICHTS dagegen zu sagen ist dass ein frommer Mensch ob Katholik Jude oder Moslem appelliert (...) habe Respekt vor meinem Glauben (0.8) trotzdem leben wir in einer Zeit nach der Aufklärung und darauf sind wir stolz trotzdem leben wir in einer Zeit in der wir sagen (..) nicht mehr die Religionen und ihre Vertreter die demokratisch nicht [legitimiert sind
MO [Herr Friedman ich bin froh mit Ihnen einen klugen Menschen hier zu haben wir hören jetzt immer das Christentum hat die Aufklärung hinter sich der Islam hat es nicht (..) können Sie mit zwei Sätzen beschreiben (..) was das heißt wir haben die Aufklärung hinter uns
Zuerst räumt Friedman ein, dass der religiöse Glaube respektiert werden soll. Dann führt er Argumente ein, die seines Erachtens gewichtiger sind („trotzdem leben wir...“) und die den Respekt vor den Religionen als zweitrangig erscheinen lassen. Das rhetorische Mittel der Anapher („trotzdem leben wir“) verleiht der eingeführten Vergeschichtlichung mehr Kraft. Bedeutungsvoll ist hier nicht nur die inszenierte Vergeschichtlichung („trotzdem leben wir in einer Zeit nach der Aufklärung und darauf sind wir stolz“) sondern auch die Antwort des Moderators: „wir hören jetzt immer das Christentum hat die Aufklärung hinter sich der Islam hat es nicht (..) können Sie mit zwei Sätzen beschreiben (..) was das heißt wir haben die Aufklärung hinter uns“. Dabei greift er die von Friedman angesprochene Vergeschichtlichung – die Verbindung der Ingroup mit der Aufklärung – auf. Die interlokutive Dialogizität wird zudem mit dem Hinweis auf die interdiskursive Dialogizität9 gekoppelt. In seinem Turn lässt nämlich der Moderator eine zweite Stimme mitklingen, die die Verantwortung für die Aussage „das Christentum hat die Aufklärung hinter sich der Islam hat es nicht“ übernimmt. Dieser zweite Äußernde wird nicht identifiziert: Wie im Beispiel 3 haben wir es mit der Stimme der Doxa zu tun. Dadurch wird auch hier die Assoziation der Ingroup mit der Aufklärung als präkonstruiert und zirkulierend dargestellt.
Präkonstruierte und zirkulierende Elemente, explizite Hinweise auf die Doxa und den Interdiskurs: All dies sind klare linguistische Zeichen dafür, dass die besprochenen Vergeschichtlichungen dem Begriff „Stereotyp“ untergeordnet werden können. Sie weisen nämlich darauf hin, dass diese Vergeschichtlichungen schon vor der einzelnen Aussage geformt feststehen. Sie erscheinen daher als ein „schon Gedachtes“ und ein „schon Gesagtes“10, d.h. als ein Stereotyp.
2. Typologie der stereotypen Vergeschichtlichungen
Nachdem wir die Merkmale erläutert haben, die die Vergeschichtlichungen im Korpus charakterisieren und dazu führen, von stereotypen Auto- und Heteroidentitäten zu sprechen, wollen wir jetzt anhand einer Typologie näher auf den Inhalt der Selbst- und Fremdstereotype eingehen. Die von uns hergestellte Klassifikation basiert auf den linguistischen Mitteln, durch welche die Vergeschichtlichungen geschaffen werden.
2.1. Statik vs. Dynamik / Stehengeblieben vs. fortgeschritten
Die erste Art und Weise, Gruppenidentitäten stereotyp mit historischen Epochen zu verbinden, besteht in der Verankerung der Ingroup und der Outgroup in einem Geschichtsvektor, d.h. einer linear orientierten Vorstellung der Zeit. Dem Westen und dem Islam werden gegensätzliche Plätze zugewiesen, und zwar immer in der gleichen Ordnung: Der Islam gehört zur Vergangenheit, der Westen zur Gegenwart, bzw. zur Moderne. Nennenswert ist, dass damit weniger geschichtliche Epochen als Entwicklungsstadien gemeint sind. Diese Stadien stehen nämlich in keinem historischen Kontext, sie werden nicht explizit mit einer Zeit oder einem Datum verknüpft:
Beispiel 5 (Mots croisés)
HV: Hubert Védrine
HV L’islam est dans le même état que l’Occident chrétien quand il croyait à sa propre religion (1.1) où il ne supportait rien (.) de tout ça (...) alors nous on parle parce qu’on n’est pas dans les mêmes temps en fait (..) on parle après un très très long processus de laïcisation qui était d’ailleurs euh (...) violent que nos églises ont combattu avec une extrême énergie (...)
Die feststellende Aussage „L’islam est dans le même état que l’Occident chrétien quand il croyait à sa propre religion“ verankert den Islam in einer fernen aber unpräzise situierten Vergangenheit des Westens. Der Unterschied zwischen den temporalen Situationen der In-und Outgroup wird dann wiederholt: „alors nous on parle parce qu’on n’est pas dans les mêmes temps en fait (..) on parle après un très très long processus de laïcisation“. Auch hier fehlt eine genaue zeitliche Kontextualisierung: Die historische Kluft zwischen den zwei Gruppen wird ein zweites Mal zum Ausdruck gebracht und ihr Ausmaß wird durch die Wiederholung von „très“ („après un très très long processus de laïcisation“) verdeutlicht. Angesprochen wird hier eine kulturelle Entwicklung, die der Westen, im Gegensatz zum Islam, vollzogen hat.
Das nächste Beispiel stellt eine Variation dieses Motivs dar. Diesmal werden die zwei Gruppen auf dem Geschichtsvektor situiert, aber auch datiert:
Beispiel 6 (Mots croisés)
PL: Pierre Lellouche
PL Je regrette que par exemple (..) l’islam se soit replié sur lui-même au moment où l’Europe décollait il y a cinq siècles (...) l’Europe partait avec la Renaissance (.) et c’est devenu (...) ensuite la puissance occupANTE (..) d’un monde islamique (..) qui AVAIT (..) porté la science et la modernité (..) pendant (...) plusieurs siècles et qui tout d’un coup se repliait (.) et qui aujourd’hui se sent humilié je le sais/ (...)
Zwei historische Bewegungen, die den historischen Unterschied zwischen den beiden Gruppen begründen, werden geschildert: Einerseits gibt es den Islam, auf dessen Seite es früher Wissenschaft und Moderne gab (eine genaue geschichtliche Anordnung wird nicht angegeben), andererseits gibt es das „Wir“, Europa, das die Dynamik und die Entwicklung bis heute symbolisiert. Auffällig ist, dass ein historischer Moment benannt wird, der den Anfang der islamischen Abkapselung und den Beginn der westlichen Macht – auf militärischer, wissenschaftlicher und kultureller Ebene – markiert: Der Islam sei ab der Renaissance stehen geblieben, während der Westen sich ab diesem genauen Zeitpunkt bis heute beständig weiter entwickelt habe. Die kollektiven Identitäten werden mit zwei historischen Dynamiken verbunden: einerseits einer gehemmten Entwicklung, andererseits dem entfesselten Fortschritt. Interessant ist, dass die historische Datierung das Ende des einen (der Ausstrahlung des Islams) zum Anfang des anderen (der Ausstrahlung Europas) erklärt. Suggeriert wird, dass die beiden Gruppen in einem Verhältnis der Konkurrenz zueinander stehen: Es ist als ob die Stärke des einen nur mit der Schwäche des anderen einhergehen könnte, als ob nur einer von beiden der Träger des Fortschritts sein könnte.
Die Dialektik Statik, bzw. Rückständigkeit vs. Fortschritt lässt sich auch in dem folgenden Passus beobachten. Die Moderne ist ein eindeutiges Merkmal der Ingroup: Der Islam wird daraus ausgeschlossen.
Beispiel 7 (Mots croisés)
HV: Hubert Védrine
HV Et je pense que tous les musulmans euh modernes respectueux en même temps des (..) peut-être que moderne en tout cas est un mot impropre en tout cas respectueux de la (..) des droits humains les plus élémentaires devraient se mobiliser plus (...) en tout cas ils devraient le dire beaucoup plus fort que ça s’entende PLUS (.)
Bemerkenswert ist die progressiv konstruierte Kennzeichnung der Muslime. Der Laut „euh“ signalisiert die Überlegung des Sprechers, der nach einer adäquaten Charakterisierung sucht. Die erste Kennzeichnung „modernes“ wird sofort von einer zweiten ergänzt: „respectueux en même temps des“. Das Objekt des Respekts wird nicht genannt: Statt dessen folgt nach einer kurzen Pause ein metadiskursiver Kommentar über das unmittelbar zuvor Gesagte („peut-être que moderne en tout cas est un mot impropre“). Védrine verdeutlicht, dass die zwei vorangehenden Adjektive nicht gleichzusetzen sind: Das zweite Adjektiv („respectueux de“) wird bevorzugt, indem das Erste („modernes“) explizit als irrelevant bezeichnet wird.
Beispiel 8 (Mots croisés)
PL: Pierre Lellouche
MO: Moderator
PL Et au final du final (...) le fond du sujet c’est quoi c’est de savoir si (.) les grands pays musulmans (..) peuvent vivre avec la démocratie OU PAS/ (.) c’est d’ailleurs la raison pour laquelle
MO Question intéressante
PL J’ai pris position (..) pour l’entrée de la Turquie en Europe (.) et j’étais ultra minoritaire dans mon parti (..) pourquoi (...) parce que si nous arrivons à démontrer (..) qu’un grand pays musulman (..) PEUT se réconcilier avec la modernité (..) PEUT se réconcilier avec les règles de droit
Pierre Lellouche behauptet, die Hauptfrage sei, ob der Islam mit der Demokratie zu vereinbaren ist. Nachdem der Moderator die Frage ratifiziert („Question intéressante“), reformuliert sie Lellouche: „parce que si nous arrivons à démontrer (..) qu’un grand pays musulman (..) PEUT se réconcilier avec la modernité“. Diesmal wird die Erwähnung „der Demokratie“ durch die „der Moderne“ ersetzt: Die Frage nach der Möglichkeit der Koexistenz von Islam und Demokratie wird mit der Frage nach der Möglichkeit der Aussöhnung von Islam und Moderne neu formuliert.
Die verschiedenen Fälle, die analysiert wurden, weisen alle eine markante Gemeinsamkeit auf: Sie verankern die In- und die Outgroup in unterschiedlichen und entgegengesetzten geschichtlichen Stadien. Diese Stadien lassen sich sowohl als Entwicklungsmomente (modern vs. unmodern) als auch als Opposition von Statik vs. Dynamik (zurückgeblieben vs. fortgeschritten) charakterisieren.
2.2. Eigennamen
Die kollektiven Identitäten werden auch durch Verbindung mit Eigennamen11 vergeschichtlicht: Sowohl Chrononyme als auch Anthroponyme werden bemüht. Im Folgenden sollen diese Eigennamen untersucht werden, so dass die Selbst- und Fremdstereotype sich genauer abzeichnen. Dabei soll die inhaltliche Analyse mit der linguistischen Analyse verknüpft und die diskursive Funktion der Eigennamen (vor allem der Chrononyme) beobachtet werden.
2.2.1. Chrononyme / Praxonyme
Die Vergeschichtlichung erfolgt, wie zu erwarten, durch die Verankerung der In- und Outgroup in unterschiedlichen Epochen anhand von Zeitnamen (Chrononymen). Der Islam wird mehrmals mit dem Mittelalter verknüpft:
Beispiel 9 (Menschen bei Maischberger)
HM: Helmut Markwort
HM Das entsteht doch aus dieser Theokratie (..) aus einer Religion (..) die im Mittelalter stehen geblieben ist (..) wo der Staat und die Kirche identisch sein sollen wo {wie ich gesagt habe} in der Moschee (.) Politik gemacht wird
Der Westen hingegen wird mit der Renaissance (11, 12), dem Humanismus (12) und der Aufklärung (10, 12) in Verbindung gebracht.
Beispiel 10 (Hart aber fair)
MF: Michel Friedman
MF Trotzdem leben wir in einer Zeit nach der Aufklärung und darauf sind wir stolz trotzdem leben wir in einer Zeit in der wir sagen (..) nicht mehr die Religionen und ihre Vertreter die demokratisch nicht [legitimiert sind
Beispiel 11 (Mots croisés)
PL: Pierre Lellouche
PL Je regrette que par exemple (..) l’islam se soit replié sur lui-même au moment où l’Europe décollait il y a cinq siècles (...) l’Europe partait avec la Renaissance
Beispiel 12 (Hart aber fair)
WB: Wolfgang Bosbach
WB Wenn man dagegen auf die Strasse geht und Gewalt anwendet ist das exakt das Gegenteil von unseren Vorstellungen nach (...) Humanismus nach Aufklärung nach Renaissance nach den Werten die wir in jahrhundertlangen Kämpfen errungen haben und die wir (.) verteidigen müssen
Auffällig ist, dass die Chrononyme mit Werten assoziiert werden. Im Beispiel (12) erfolgt dies explizit: „nach den Werten die wir in jahrhundertelangen Kämpfen errungen haben und die wir (.) verteidigen müssen (…)“. In den anderen Auszügen werden die Chrononyme mit Beschreibung von Werten oder von politischen Praktiken ergänzt: Das Mittelalter wird als Zeit, „wo der Staat und die Kirche identisch sein sollen“, beschrieben (10), die Aufklärung und die auf sie folgende Zeit als Epoche, „in der wir sagen (..) nicht mehr die Religionen und ihre Vertreter die demokratisch nicht [legitimiert sind“ (10) und die „Vorstellungen nach (...) Humanismus nach Aufklärung nach Renaissance“ mit „Werten die wir in jahrhundertelangen Kämpfen errungen haben und die wir (.) verteidigen müssen“ (12). Dies signalisiert, dass die Chrononyme nicht nur auf eine bestimmte Zeit, sondern auch auf bestimmte ideologische und politische Praktiken hinweisen. Diese Feststellung darf nicht irritieren: Die Nähe – auf der semantischen Ebene – der Chrononyme zu den Praxonymen (die Namen von Praktiken oder Ereignisse) ist den Diskursanalytikern wohl bekannt. Bacot, Douzou und Honoré erklären überzeugend, dass zeitliche Perioden nur angesichts der Ereignisse wahrgenommen – und daher benannt – werden, die sie gekennzeichnet haben (Bacot / Douzou / Honoré 2008). Deswegen kann sich die Unterscheidung zwischen Chrononym und Praxonym in der Praxis (d.h. wenn man einen Diskus analysiert) als heikel erweisen. Es ist sinnvoll, hier keine forcierte Unterscheidung zu treffen, und die besprochene Mehrdeutigkeit der Chrononyme als solche hinzunehmen. So wollen wir den Daten gerecht werden, ohne aufgrund der eigenen Subjektivität den einen oder anderen eindeutigen Sinn zu privilegieren. Folglich kann man sagen, dass die in diesen Debatten verwendeten Chrononyme gleichzeitig auf historische Epochen und auf politische Werte hinweisen. Sie dienen dazu, die Gruppenidentitäten in einer besonderen Zeit zu verankern, und sie gleichzeitig mit besonderen politischen Praktiken zu verknüpfen.
2.2.2. Anthroponyme
Die Anthroponyme, die die Vergeschichtlichung ermöglichen, sind nur für die Ingroup vorhanden. Sie fokussieren eines der oben erwähnten Chrononyme: die Aufklärung. In der Sendung Pièces à conviction ist von Montesquieu und Voltaire die Rede:
Beispiel 13 (Pièces à conviction)
JMR: Jean-Marc Roubaud
JMR Aujourd’hui quelle est la réalité la France .h elle est multi (.) culturelle .h multi-religieuse .h multi-raciale .h on me parle de Montesquieu de Voltaire (.) c’est ma culture c’est mes racines .h mais dans mon raisonnement hexagonal
Die Erwähnung der beiden Philosophen im französischen Kontext überrascht angesichts der vorhin angesprochenen Dominanz des Chrononymes „Aufklärung“ nicht. Bemerkenswert ist aber, dass Voltaire auch in den deutschen Debatten als Galionsfigur auftaucht:
Beispiel 14 (Menschen bei Maischberger)
HM: Helmut Markwort
HM Aber (.) anzünden verfolgen (..) BOYKOTT (.) ja (.) und einschüchtern und viele Leute schon wieder die Werte die Voltaire erkämpft hat für uns (.) plötzlich wieder in Frage stellen nehmt doch Rücksicht (..)
Wir sind bereits näher auf den Inhalt der Auto- und Heterostereotype eingegangen. Dabei wurde klar, dass die In- und die Outgroup als zwei radikal entgegengesetzte Gruppen dargestellt werden. Die rekurrente und strukturierende Opposition zwischen beiden Gruppen ist insofern wichtig, als die beiden Kollektive nicht nur als abgeschlossene Identitäten stereotypisiert werden, sondern auch als zwei Entitäten, die durch die Oppositionsbeziehung miteinander fest verknüpft sind.
3. Pragmatische Charakteristiken der Stereotype
Nachdem wir auf die linguistischen und inhaltlichen Merkmale der Auto- und Heterostereotype eingegangen sind, sollen sie im Hinblick auf ihre pragmatischen Effekte näher charakterisiert werden.
3.1. Wertorientierte Stereotype
Es zeigt sich, dass die vergeschichtlichten Auto- und Heterostereotype nicht neutral sind: Die Vergeschichtlichung der Ingroup wird stark positiv und die Vergeschichtlichung der Outgroup stark negativ bewertet.
3.1.1. Explizite Bewertungen
Die Bewertung erfolgt explizit sowohl auf der Ebene des dictum als auch auf der Ebene des modus12.
Beispiel 16 (Menschen bei Maischberger)
UW: Ulrich Wickert
UW [Ich glaube es gibt ein ganz wesentliches Problem dabei (0.9) es ist ein SEGEN (...) dass Sie haben vorhin Voltaire angesprochen (...) dass wir aus der Zeit Trennung von Staat und Kirche haben das heißt Vernunft auf der einen Seite und wenn Sie erlauben (..)
Interessant ist hier der modus, d.h. die Art wie der Sprecher explizit zum dictum („dass wir aus der Zeit Trennung von Staat und Kirche haben“) Stellung nimmt: „es ist ein SEGEN“ erklärt Wickert. Die äußerst positive Bewertung, die vom Substantiv „Segen“ zum Ausdruck gebracht wird, wird zudem durch die prosodische Betonung des Substantivs verstärkt.
Im folgenden Beispiel haben wir es mit einem ähnlichem Fall zu tun: Der Sprecher nimmt eine explizite und bewertende Stellung zu dem ein, was er äußert. Er sagt nämlich, er bedauere die Tatsache, dass der Islam vor fünf Jahrhunderten stehen geblieben sei, als der Westen bedeutende Fortschritte zu machen begann.
Beispiel 17 (Mots croisés)
PL: Pierre Lellouche
PL Je regrette que par exemple (..) l’islam se soit replié sur lui-même au moment où l’Europe décollait il y a cinq siècles (...) l’Europe partait avec la Renaissance (.) et c’est devenu (...) ensuite la puissance occupANTE (..) d’un monde islamique (..) qui AVAIT (..) porté la science et la modernité (..) pendant (...) plusieurs siècles et qui tout d’un coup se repliait (.) et qui aujourd’hui se sent humilié je le sais
Die negative Bewertung der Heteroidentität wird sowohl durch das dictum (siehe die Diskrepanz zwischen „partait“ und „se repliait“) als auch den modus („je regrette“) zum Ausdruck gebracht.
3.1.2. Implizite Bewertungen
Die bereits eingeführten Beispiele zeigen, dass sowohl die Fremd- als auch die Selbstidentität explizit bewertet werden. Doch meistens erfolgt die Bewertung implizit, zum Beispiel anhand des benutzten Wortschatzes, der durchaus eine bewertende Funktion haben kann (Kerbrat-Orecchioni 2002). Es ist in dem Falle schwierig, die Bewertung an den Tag zu ziehen. Dennoch gibt es im Korpus ein vielsagendes Motiv, das geschildert werden soll: die Einbettung des Islams außerhalb der demokratischen Sphäre, die mit dem Ausschluss des Islams aus der Moderne einhergeht.
Beispiel 18 (Hart aber fair)
MF: Michel Friedman
MO: Moderator
MF Trotzdem leben wir in einer Zeit nach der Aufklärung und darauf sind wir stolz trotzdem leben wir in einer Zeit in der wir sagen (..) nicht mehr die Religionen und ihre Vertreter die demokratisch nicht [legitimiert sind
MO [Herr Friedman ich bin froh mit Ihnen einen klugen Menschen hier zu haben wir hören jetzt immer das Christentum hat die Aufklärung hinter sich der Islam hat es nicht (..) können Sie mit zwei Sätzen beschreiben (..) was das heißt wir haben die Aufklärung hinter uns
MF Das bedeutet dass die Religion nicht mehr die weltliche Macht hat über Menschen zu bestimmen (...) sondern dass es Demokratien sind (..) gewählte Parlamente (.) dass wir uns selbst (...) als Menschen (..) unsere Regeln geben und nicht (..) von irgendeiner Autorität der Religion (..) diese übernehmen müssen
Beispiel 19 (Mots croisés)
PL: Pierre Lellouche
MO: Moderator
PL Et au final du final (...) le fond du sujet c’est quoi c’est de savoir si (.) les grands pays musulmans (..) peuvent vivre avec la démocratie OU PAS/ (.) c’est d’ailleurs la raison pour laquelleMO Question intéressante
Beispiel 20 (Hart aber fair)
UK: Ulrich Kienzle
MO: Moderator
MO Ist das so leicht zu vereinbaren Herr Kienzle Demokratie und Islam wie Herr Friedman das fordert
UK Ist eine schwierige Geschichte
Diese Auszüge zeigen, dass der Begriff „Demokratie“ ein Leitmotiv in den Debatten darstellt: Konsens ist, dass die Ingroup, der Westen, unter dem Zeichen der Demokratie steht. Konsens ist auch, dass die Verbindung der Outgroup mit der Demokratie sehr problematisch ist. Der Begriff „Demokratie“, der vorerst als neutral erscheinen mag (im Gegensatz zum Adjektiv „schön“ beispielsweise, das die Bewertung des Sprechers eindeutig zum Ausdruck bringt), ist ein stark wertendes Substantiv. De Chanay und Rémi-Giraud (2007) zeigen anhand einer detaillierten lexikologischen und diskursanalytischen Studie, dass das Wort „démocratie“ eine stabile positive Bewertung besitzt, und dass es eher der Charakterisierung (d.h., dass es auf „das Richtige“, „das Gute“ hinweist) als der Kategorisierung (d.h. der Benennung von „objektiven“ Merkmalen) dient. Dies signalisiert, dass die stereotype Identifikation der Ingroup mit der Demokratie und der stereotype Ausschluss des Islams aus der Demokratie durchaus einer Bewertung entsprechen: Die wiederkehrende Verknüpfung der Ingroup mit der Moderne und der Demokratie schafft implizit ein positives Selbststereotyp und ein negatives Fremdstereotyp.
Aus Platzgründen können wir die Analyse des wertenden Wortschatzes nicht fortsetzen. Doch erscheint es sehr wahrscheinlich, dass eine Analyse der Chrononyme „Mittelalter“ und „Aufklärung“ zu ähnlichen Schlussfolgerungen führen würde.
3.2. Ragmatische Effekte der Stereotypisierungen
Die Vergeschichtlichung ist im Korpus ein Mittel der stereotypen Identitätskonstruktion. Die Ingroup und die Outgroup werden aber auch anhand anderer linguistischer Mittel als stereotypisierte Gruppen inszeniert: beispielsweise durch die verallgemeinernden und homogenisierenden Benennungen („der Islam“ vs. „der Westen“ / „l'Occident“) oder durch den Gebrauch der Formeln „choc des civilisations“ / „Kampf der Kulturen“ usw. Über die kollektive Identitätskonstruktion hinaus trägt die Einbettung der entgegengesetzten Identitäten in historischen Epochen sowie in politischen und ideologischen Praktiken auch zur „Naturalisierung“ der Gruppenstereotype bei: Da sie in geschichtlichen Epochen verankert werden, erscheinen sie gleichsam als naturgegeben.
3.2.1. Naturalisierung der Gruppenstereotype
Durch die Vergeschichtlichung werden die stereotypen Identitäten der In- und Outgroup naturalisiert: Ihre Verankerung in der Geschichte erzeugt den Eindruck der Existenz und der Evidenz. Da die geschichtlichen Epochen für eine Gemeinschaft als selbstverständlich erscheinen (jeder, auch wenn er kein Historiker ist, erkennt spontan die Existenz der Aufklärung oder des Mittelalters an), konstituiert die Vergeschichtlichung ein starkes Mittel der Identitätskonstruktion.
Die Fremd- und Selbstidentität gewinnen durch die Benennungen „Westen“ und „Islam“ an Fülle: Sie werden im Raum verankert13. Parallel dazu werden die Gruppenidentitäten durch die Vergeschichtlichungen in der Zeit verankert. Dadurch wird der In- und der Outgroup, die an und für sich nicht nur abstrakte sondern auch vage Entitäten darstellen, eine konkrete Gestalt verliehen.
3.2.2. Ervielfachung der Stereotypisierung
Dieser Naturalisierungsprozess hat zur Voraussetzung, dass die geschichtlichen Epochen, die der Vergeschichtlichung dienen, gleichsam ahistorisch sind: Die Entwicklungen und Brüche, die zu ihnen geführt haben, werden verschwiegen. Daher entsteht der paradoxe Eindruck, dass sie außerhalb der Geschichte stehen, dass sie enthistorisiert sind.
Ein anderes Element, das für die Stereotypisiserung der angesprochenen Epochen spricht, ist, dass sie jeweils mit einem einzigen Merkmal verbunden werden. Das Mittelalter gilt als die Zeit der Nichttrennung von Religion und politischer Macht, während die Aufklärung als die Zeit ihrer Trennung dargestellt wird. Das Reduzieren der Geschichtsepochen auf ein entkontextualisiertes Merkmal deutet auch auf eine Stereotypie hin.
Es soll auch unterstrichen werden, dass die Geschichtsvorstellung, die den Vergeschichtlichungen zugrunde liegt, selbst auch ein Stereotyp ist: Die Geschichte wird als ein orientierter Vektor dargestellt, der einen „Sinn“ hat, d.h. eine Entwicklung, die in eine bestimmte Richtung orientiert sein soll. Dies weist auf ein besonderes geschichtsphilosophisches System hin: Geschichte verläuft diesem System zufolge linear und ihr Fortschreiten bedeutet einen Fortschritt.
4. Dissensfälle
Wir haben bereits die stereotype Konstruktion der In- und Outgroup beschrieben. Eines ihrer Merkmale ist, dass ihre Äußerungen in der Interaktion nicht diskutiert werden: Sie sind Konsens. Einige Fälle, bei denen sie in Frage gestellt werden, sind aber zu verzeichnen. Diese Uneinigkeitsfälle dürfen nicht ausgeblendet werden und sollen im Folgenden untersucht werden.
4.1. „Konversationelle Aushandlungen“ und „Anpassung“14: Begriffserläuterung
Die Interaktionsanalyse (Kerbrat-Orecchioni 2001, 1990, 1992) geht davon aus, dass Regeln notwendig sind, damit die GesprächsteilnehmerInnen zusammen ein Gespräch führen können. Da diese Regeln vage und flexibel sein können, und da die Absichten und Ansichten der GesprächsteilnehmerInnen auseinander gehen können, kann es zu Uneinigkeiten kommen (Kerbrat-Orecchioni 2004: 17). Diese Uneinigkeiten müssen aber behandelt und behoben werden, damit das Gespräch weitergeführt werden kann. Die Behandlung kann unterschiedliche Formen nehmen, beispielsweise die der „konversationellen Aushandlung“15 (Kerbrat-Orecchioni 2001, 2005, 2004) oder die der „Anpassung“16 (Traverso 2004).
Kerbrat-Orecchioni gibt folgende Elemente als notwendig und erforderlich an, um von einer „konversationellen Aushandlung“ sprechen zu können (Kerbrat-Orecchioni 2005: 98). Vorhanden sein sollen:
- Mindestens zwei Aushandlungspartner
- Ein Objekt, das ausgehandelt wird (das unterschiedlicher Natur sein kann)
- Eine Uneinigkeit17
- Aushandlungsprozeduren (auch wenn sie fingiert sind), die die GesprächsteilnehmerInnen durchführen, um die Uneinigkeit zu beseitigen
- Eine Endsituation, bedeute sie die Auflösung der Uneinigkeit oder das Scheitern der Aushandlung
Die Aushandlung ist aber nicht der einzige Weg, Uneinigkeit in der Interaktion zu behandeln. Die Alternative dazu ist die „Anpassung“ (Traverso 2004). Eine Anpassung charakterisiert sich dadurch, dass die GesprächsteilnehmerInnen nicht weiter auf den divergierenden Positionen bestehen. Entweder einigen sie sich sofort, oder sie sehen über den Zankapfel hinweg und thematisieren das Problem nicht weiter.
4.2. Die Dissensbehandlungen
4.2.1. Reparaturforderung und Anpassung
In folgendem Passus geht es um die „Araber“, die prototypisch für Muslime stehen.
Beispiel 21 (Menschen bei Maischberger)
HM: Helmut Markwort
MO: Moderatorin
(1) HM Geistig großartig religiös stehen geblieben das ist das Problem
(2) MO Das ist jetzt mal sehr einfach wo ist denn dann drehen Sie doch mal den Satz um und machen so eine ähnliche Beschreibung über Deutsche das möchte ich gern mal wissen (0.9) sind wir religiös (.) großartig und geistig zurückgeblieben oder wie klingt das dann
(3) HM Deutschland ist ein völlig laizistisches Land wir haben dreißig Sie haben gesagt religiös
(4) MO Ja
(5) HM Wir haben dreißig Prozent Katholiken dreißig Prozent Evangelische (..) dreißig Prozent die sind gar nichts und dann haben wir drei Millionen Muslime und Juden und Buddhisten [und so weiter
Der formelhaften Aussage Markworts (1) folgt ein Turn der Moderatorin (2), die das Wort ergreift, erstens um die Aussage Markworts zu kritisieren („Das ist jetzt mal sehr einfach“), zweitens um eine Reparatur zu fordern („wo ist denn dann drehen Sie doch mal den Satz um und machen so eine ähnliche Beschreibung über Deutsche“). Hiermit wird der Turn Markworts als Transgression konstruiert. Der Gebrauch des zweiten Partizips „stehengeblieben“, das negativ konnotiert ist, stellt nämlich für den Islam ein Face-Threating-Act dar. Interessant ist, dass Markwort diesen Standpunkt an der genannten Stelle nicht zum ersten Mal, sondern zum dritten Mal im Gespräch zum Ausdruck bringt:
Beispiel 22 (Menschen bei Maischberger)
HM: Helmut Markwort
HM Diese Imame (..) diese Leute die predigen wir sind die Besseren dieser dekadente WESten (..) der Satan der große Satan Amerika der kleine Satan Israel und die Satelliten Satans .h das entsteht doch aus dieser Theokratie (..) aus einer Religion (..) die im Mittelalter stehen geblieben ist (..) wo der Staat und die Kirche identisch sein sollen
Beispiel 23 (Menschen bei Maischberger)
HM: Helmut Markwort
HM xxx ist noch so zurückgeblieben .h wie unsere christliche Kirche oder Ihre Christliche Kirche war (..) als sie dreihundert Jahre [Hexen verbrannt hat und gefoltert hat
Beim ersten Mal (Beispiel 22) wird der Islam als eine Religion gekennzeichnet, „die im Mittelalter stehengeblieben ist“, beim zweiten Mal (23) wird er als „zurückgeblieben“ charakterisiert, wobei er mit dem vergangenen Christentum gleichgesetzt wird. Mehrere Faktoren tragen dazu bei, dass erst beim dritten Mal (Beispiel 21) eine Uneinigkeit auftaucht, die die Form einer Zensur durch die Moderatorin annimmt. Die negative Konnotation der Verben „stehenbleiben“ und „zurückbleiben“ wird in den Beispielen 22 und 23 durch unterschiedliche Elemente gemildert. In 22 wird das Verb durch eine Zeitangabe („im Mittelalter“) ergänzt, während es in 21 ohne Zeitangabe, als absoluter Zustand des Stehenbleibens steht. In 23 hingegen wird die Face-Bedrohung, die durch das Verb „zurückgeblieben“ entsteht, durch die Gleichstellung mit einem vergangenen Stadium der Ingroup gemildert. Der Passus 21 bietet aber keinerlei Art Milderung der Face-Bedrohung an. Ganz im Gegenteil: Der Parallelismus („Geistig großartig religiös stehen geblieben“) verleiht der Face-Bedrohung mehr Kraft und wird explizit im modus als problematisch markiert („das ist das Problem“).
Die Turns 3-5 (Beispiel 21) zeugen davon, dass Markwort sich der Anforderung der Moderatorin stellt. Einen formelhaften Parallelismus, der die Ingroup charakterisieren würde, macht er nicht, dafür aber knüpft er an das von der Moderatorin Geforderte an. Er diskutiert zwar das, was sie angesprochen hat, aber hält an seiner ersten Aussage nicht fest: es handelt sich um eine Anpassung.
4.2.2. Implizite Uneinigkeit und Relativierung
Beispiel 24 (Menschen bei Maischberger)
HM: Helmut Markwort
UW: Ulrich Wickert
(1) HM Wir haben doch eine ganze Menge Leute die (..) missionarisch unterwegs sind kreuzzüglerisch weil sie wie ich sage Überwert- ihre (...) ihren (...) {sakrosankten} Glauben durchsetzen wollen [in der Welt ich meine
(2) UW [Sylvio Berlusconi hat leider auch gesagt (...) dass Christentum dem Islam weit überlegen ist und der hat seiner Zeit einen Kreuzzug ange- angedroht
In diesem Passus wird der Dissens nicht explizit thematisiert. Der Turn von Wickert (2) nimmt das Thema der Kreuzzüge auf, das von Markwort durch einen Neologismus unmittelbar davor eingeführt worden ist (Turn 1). Implizit taucht der Dissens auf: Wickert relativiert die Aussage Markworts, indem er die Kreuzzüge mit der Ingroup verbindet. Er negiert nicht unmittelbar die Äußerung des Gesprächspartners, dafür aber stellt er ein Gleichgewicht zwischen der Auto- und der Heteroidentität her: Die negativ konnotierten Kreuzzüge werden sowohl der Ingroup als auch der Outgroup zugeschrieben. Der hier implizit zum Ausdruck gebrachte Dissens dient dazu, die negative Vergeschichtlichung der Outgroup zu relativieren (d.h. symbolisch das Face der Outgroup zu wahren) und zeitgleich das Face des Gesprächspartners zu schonen.
4.2.3. Aushandlung in mehreren Schritten
Das Auftauchen der Verbindung vom Islam mit den Kreuzzügen, die im letzten Passus festzustellen ist, stellt keinen Einzelfall dar, wie in der Sendung Hart aber fair zu beobachten:
Beispiel 25 (Hart aber fair)
WS: Werner Schneyder
MO: Moderator
UK: Ulrich Kienzle
MF: Michel Friedman
19 min 35sec.
(1) WS Es ist fraglos SO (..) dass sich ein GUTteil den ich nicht quantifizieren (..) kann des Islam am Kreuzzug befindet auf einem Kreuzzug (...) und die anderen (.) Islamisten [{scheinen} xx
(2) MO [Kreuzzug wogegen
(3) WS Durch die Rache gegen Europa (...) gegen die westliche Welt [aber diese xxx
(4) UK [Aber Herr Schneyder aber Herr Schneyder aber hier sind Sie auf Holzweg es stehen doch keine Truppen in Finnland und wollen dort die Scharia einführen und es stehen doch keine Truppen in Österreich [und wollen dort die Scharia einführen
(5) MF [Es stehen Truppen vor der DÄnischen Botschaft vor der ÖSterreichischen [Botschaft
(6) UK [Ja okay
(7) MF Vor anderen Botschaften
(8) UK Ich will
(9) MF Zerstören diese Botschaften zünden sie an gefährden Menschen Menschen kommen mittlerweile zu Tode (..) und DAS muss man ernst nehmen das zu verharmlosen
(10) UK Ich verharmlose das überhaupt [nicht
(11) MF [Ist eines der Fahrlässigkeiten weil wir uns NICHT (.) in Europa ENDLICH auseinandersetzen wollen (..) NICHT der Islam (..) aber dass es einen FUNdamentalistischen TEIL des Islams gibt [der die westliche Zivilisation angreifen will
(12) UK [Das xxx zu differenzieren das ist ja der Punkt
(13) WS Habe ich ja gesagt/
(14) UK Nein nein nein nein
(15) WS Das habe ich ja gesagt aber was Friedman sagt ist zu ergänzen (...) es ist einfach die Untätigkeit jenes (...) Islam der sagt wir sind eine Friedenslehre (..) das steht nicht im Koran (..) dieses Gesellschaftsspiel wird mir jetzt zu lange (.) ohne Konsequenz gespielt (..)
21 min 15 sec
[...]
22 min 37 sec
(16) MF Es gibt [zwei
(17) UK [Halt halt halt ich will
(18) MO Moment
(19) UK Nein
(20) MO Dieses halt halt halt hätte ich [ein Monopol gern darauf
(21) UK [Nein den Punkt Kreuzzug
(22) MO Jetzt sind Sie daran Herr Kienzle
(23) UK Nein den Punkt Kreuzzug müssen wir schon klären
(24) MO (lächelt) Ja
(25) UK Da kann man nicht darüber hinweg reden er hat Kreuzzug gesagt (...) [Kreuzzüge haben WIR Euro- christliche Europäer
(26) MF [Ist ja christliches xx
(27) UK Gegen die Moslems geführt war früher .h wir haben auch der Präsident der amerikanischen hat einmal von Kreuzzug gesprochen (.) den er führt gegen äh den Orient (.) auch das war ein Fehler (.) ich will nur klar machen (..) dass man da ein bisschen differenzierter mit umgeht (..) der entscheidende Punkt ist (.) das was die Islamisten machen ist ABsolut skandalös und da braucht man nicht darüber zu diskutieren da müssen wir handeln
Im ersten Turn wird die Vergeschichtlichung eingeführt: Die Outgroup wird von Schneyder mit den Kreuzzügen assoziiert. Der Moderator greift ein und fragt nach einer Präzisierung. Diese macht Schneyder im dritten Turn. Die erste Aussage, die die Vergeschichtlichung beinhaltet, wird erst im vierten Turn problematisiert: Kienzle ergreift das Wort, um die Vergeschichtlichung der Outgroup heftig zu kritisieren. Er stellt die Relevanz der Benennung der Kreuzzüge hinsichtlich der konkreten militärischen Situation in Frage. Ab diesem Zeitpunkt beginnt eine Aushandlung des Themas „Kreuzzug“ zwischen Kienzle und Friedman. Friedman fungiert als Stellvertreter Schneyders, da er die von diesem eingeführte Meinung verteidigt: Der Islam bedrohe tatsächlich den Westen. Die Nuancierung dieser Äußerung, die Friedman im Turn 11 vornimmt („NICHT der Islam (..) aber dass es einen FUNdamentalistischen TEIL des Islams gibt der die westliche Zivilisation angreifen will“) ermöglicht eine Einigung mit Kienzle (Turn 12). Bemerkenswert ist, dass Kienzle signalisiert, dass er mit Friedman, dem Stellvertreter der problematischen Meinung, aber nicht mit dem originellen Sprecher (Schneyder) einverstanden ist (Turn 13-14). Ab dem Turn 15 wird ein anderes Gesprächsthema behandelt: Es geht um die Diskussion darüber, ob der Islam angesichts der Gewalt untätig bleibe. Diese Diskussion dauert etwa eine Minute und erstreckt sich auf zehn Turns. Das Gespräch verläuft zwischen Werner Schneyder und Ali Kizilkaya, als im Turn 24 Friedman das Wort ergreift. Er wird sofort von Kienzle unterbrochen (Turn 25), der einen starken Willen signalisiert, ans Wort zu kommen („Halt halt halt ich will“). Damit verletzt er die Regel der Turn-Zuteilung. Der Moderator, als Gesprächsleiter, erinnert ihn folglich an die Gesetze des Gesprächstyps: „Dieses halt halt halt hätte ich [ein Monopol gern darauf“. Dadurch gewinnt er wieder die Oberhand und gibt als Gesprächsleiter Kienzle wieder das Wort (Turn 22). Ab dem Turn 25 thematisiert Kienzle erneut die anfangs besprochenen Kreuzzüge, in dem er sie allein mit der Ingroup verbindet. Diesmal ist Friedman mit ihm einverstanden: Im Turn 26 vollendet er nämlich Kienzles Satz.
Dieser Auszug stellt eine konversationelle Aushandlung dar, die in mehreren Schritten erfolgt. Dies zeigt erstens, dass die Verbindung des Islams mit den Kreuzzügen stereotyp ist (sie wurde bereits im Beispiel 24 beobachtet) und zweitens, dass ein Stereotyp im Laufe der Interaktion ausgehandelt und sogar negiert werden kann.
4.3. Bilanz
Auffällig ist, dass die Dissensfälle nur im deutschen Korpus vorzufinden sind. Während diese Bemerkung schwer zu interpretieren ist, lässt sich zugleich feststellen, dass diese Dissensfälle nur die Outgroup betreffen. Das Stereotyp der Ingroup, das äußerst positiv bewertet wird, wird nicht diskutiert. Daraus wird klar, dass die Stereotypisierung auch im Fall einer negativen Bewertung keine Erlaubnis für die GesprächsteilnehmerInnen darstellt, alles zu sagen: Das Stereotyp besitzt Grenzen.
Interessant ist auch, dass zweimal die Aushandlung der gleichen stereotypen Vergeschichtlichung auftaucht: die Verbindung des Islams mit den Kreuzzügen (Beispiele 24 und 25). Beide Male haben wir es mit unterschiedlichen Dissensbehandlungen zu tun (Beispiel 24: Relativierung ohne explizite Thematisierung, 25: wiederholte Aushandlungen der stereotypen Vergeschichtlichung). Dadurch wird klar, dass das Stereotyp im Laufe des Gesprächs konstruiert oder dekonstruiert werden kann. Obwohl die Rigidität ein Hauptmerkmal des Stereotyps ist, erweist es sich hier als ein plastisches Phänomen, das im Gespräch aktualisiert, ausgehandelt oder dekonstruiert werden kann.
5. Schluss
In diesem Artikel wurde beschrieben, wie Vergeschichtlichungen Auto- und Heterostereotype konstruieren. Die Ingroup und die Outgroup werden mit bestimmten, wiederkehrenden Entwicklungsstadien oder geschichtlichen Epochen verknüpft. Diese werden explizit oder implizit bewertet. Die positive Identität der Ingroup wird anhand von Verweisen auf die Aufklärung, den Humanismus, die Renaissance und Voltaire als erstrebenswert konstruiert, während die Outgroup mit dem Mittelalter und dem Mangel an Moderne in Verbindung gebracht, also negativ bewertet wird. Deutlich ist, dass die beiden Identitätsstereotype in einem dynamischen Verhältnis zueinander konstruiert werden: Das eine ist gleichsam das Gegenteil vom anderen (sei es hinsichtlich der Geschichtsverweise oder der Bewertungen). Dies bezeugt die Rolle des Anderen in der Konstruktion der eigenen Identität: Die Ingroup kann nur insofern charakterisiert werden, als sie mit dem Anderen verglichen wird. Die Selbst- und Fremdidentitäten und -Stereotype werden also ko-konstruiert, erstens, weil sie von den GesprächtsteilnehmerInnen in der Interaktion hergestellt, und zweitens, weil sie durch den Gegensatz zueinander inszeniert werden.
Die Analyse der Dissensfälle hat zum Vorschein gebracht, dass allein die Vergeschichtlichungen der Outgroup diskutiert werden. Klar wurde auch, dass die Festigkeit der Soz-Stereotype im Gespräch nuanciert werden kann. Die Stereotype besitzen paradoxerweise ein bestimmtes Maß an Plastizität: Genau wie die Regeln des Gesprächs können sie in der Interaktion trotz ihrer Beständigkeit verhandelt und in Frage gestellt werden.
6. Transkriptionskonventionen
[ | Anfang der Überlappungen und des Simultansprechens |
(.), (..), (…) | Kurze, mittlere und längere Pause |
(1.2) | Pause, die länger als circa 0,8 Sekunden ist. Mit genauer Angabe der Dauer |
hum, äh | Einsilbige Signale |
/ | Steigender Ton |
Fallender Ton | |
akZENT | Starke Akzentuierung |
.h | Bemerkbares Einatmen |
ange- | Abbruch |
Para-/ außersprachliche Ereignisse | ( ) |
xxx | Unverständliche Silben, je nach Silbenzahl |
{…} | Vermuteter Wortlaut |
[...] | Auslassung des Transkripts |