Tagebuch und Widerstand
Tagebücher, genau wie andere Ego-Dokumente wie Briefe oder Memoiren, stellen in Zeiten gesellschaftlicher Krisen und Umbrüche stets auch Akte des Gedenkens und des Widerstandes dar, weil jedes Subjekt zeitlebens eigene Geschichtserfahrungen speichert, die vor dem Hintergrund des Zeitgeschehens kollektive Aussagekraft besitzen. Der Wert des Tagebuchs für die Geschichtswissenschaft liegt – trotz seiner hochgradigen Subjektivität – in seiner Wechselwirkung von individueller und kollektiver Geschichte bzw. von ‚Authentizität‘ und ‚Repräsentativität‘. Aufgrund der „spontanen“ Verschriftung des Erfahrenen können Tagebücher für die Historie aufschlussgebende Quellen darstellen: Fehleinschätzungen oder zum Zeitpunkt des unmittelbaren Erlebens gültige Schwerpunktsetzungen sind im Prinzip nachträglich nicht verändert worden.
Zu untersuchen in diesem Beitrag ist, welche grundsätzlichen formalen, motivischen und funktionalen Merkmale in Victor Klemperers Tagebuchaufzeichnungen Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten: Tagebücher 1933–1945 (1995) auszumachen sind. Die Schreibmotivation des deutsch-jüdischen Romanisten zeichnete sich einerseits durch den Bewältigungsversuch der allmählichen Ausgrenzung und der Todesangst aus. Anderseits wollte der Tagebuchschreiber der Nachwelt Zeugnis ablegen von der Shoah, was er als Pflicht den Toten gegenüber empfand. Er versuchte, sich auf diese Weise einen letzten Raum zu schaffen, der nicht gewalttätig erzwungen war. Trotz der intendierten Wahrheitsvermittlung gegen den Nazi-Diskurs und der diaristischen Augenblicksperspektive als Bezogenheit auf den jeweiligen Tag der Verschriftlichung nimmt der Tagebuchschreibende bestimmte Selektionen des Wahrgenommenen vor, die wesentlich die narrative Eigenart des Tagebuchs bestimmen. Die Tagebuchaufzeichnungen lassen sich mithin als ein Text lesen, der die dieser Gattung traditionell anhaftende Forderung nach Authentizität vom wahrheitssagenden Subjekt zur Wahrheit des Schreibens hin verschiebt. Die textuelle Selbstinszenierung des Ichs ist der performative Aspekt des Tagebuchführens, der als symbolische Handlung auch immer einen sozialen Akt darstellt. Dem Tagebuchschreiben als kultureller Praxis, der für Victor Klemperer vor allem im Dritten Reich als Selbstbehauptungsmittel in der jüdischen Bevölkerung eine besondere Bedeutung zukam, gilt in diesem Beitrag das Augenmerk.
Trauma und Selbstverschriftung
Im Folgenden soll als Fallstudie der Blick spezifisch auf die diaristischen Schreibstrategien und -motivationen des deutsch-jüdischen Romanisten Victor Klemperer gelenkt werden. An dieser Stelle interessieren die Fragen: Warum hat Klemperer sogar unter den schwierigsten Umständen Tagebuch geführt? Und: Auf welche Art und Weise thematisiert der jüdische Romanist im Tagebuch metareflexiv die eigene Schreibpraxis? Victor Klemperers Tagebuchaufzeichnungen haben ein Textkorpus hervorgebracht, das nicht – oder nur in geringem Maße – teleologisch strukturiert ist. Dies bedeutet aber keineswegs, dass ihm keine funktionelle Zweckbestimmung zugrundeliegt. Klemperers über mehr als ein halbes Jahrhundert geführtes Tagebuch bescheinigt das primäre Bedürfnis des Diaristen, den Alltag zu verschriften. Das Tagebuchschreiben war ihm ab dem sechzehnten Lebensjahr eine ‚Notwendigkeit‘: „Ich mußte mir über alles schriftliche Rechenschaft ablegen, sonst fehlte mir das Gefühl der Klarheit und sozusagen des Fertigseins mit meinen Erlebnissen.“ (CVI: 6f.)1 Es leuchtet ein, dass die „schriftliche Rechenschaft“ keine geradlinige Eins-zu-eins-Übersetzung des Gedachten und Gefühlten ins Schriftmedium darstellt, sondern den bestimmten Gesetz- und Zweckmäßigkeiten des Schreibens unterliegt. Vor diesem Hintergrund soll hervorgehoben werden, dass die Regeln der Verschriftlichung wie auch die Schreibziele und existenziellen Funktionen von Klemperers Tagebüchern sich im Laufe der Zeit verändern. Während sich die Tagebücher aus der Weimarer Zeit vordergründig durch ihre private und berufliche Akzentsetzung auszeichnen, sind die Tagebücher aus der Nazi-Zeit viel chronikalischer angelegt, wobei das Augenmerk der schicksalshaften Zeitgeschichte gilt, und wie diese die eigene Lebenswelt gestaltet bzw. einengt.
Eine Auseinandersetzung mit dem diaristischen Metatext in den Tagebüchern Victor Klemperers, die sich Fischer-Hupe (2001: 14) zufolge „durch extrem hohe Selbstreflexivität“ auszeichnen, wirft gleichzeitig ein bezeichnendes Licht auf die Hermeneutik jüdischen Tagebuchschreibens im Dritten Reich. Ein kritisches Tagebuch zu führen war im Totalitarismus strengstens verboten, und das Schreiben stellte somit ein gewisses Zeichen des inneren Widerstands dar, dessen gefährlicher Konsequenzen sich Klemperer schon in der Frühphase der NS-Herrschaft bewusst war. Das Tagebuchschreiben lag Victor Klemperer – der Gefahr ungeachtet – auf besondere Weise am Herzen, weil es ihm gewissermaßen ermöglichte, gegen „das Gefühl des Totseins, des unwiederbringlichen Lebensverlustes“ anzukämpfen (ZAII: 371 [5.5.1943]). Während der Zwangsarbeitsmaßnahmen, aufgrund derer der Diarist beim Teehandel Willy Schlüter zwangsangestellt wurde, waren ihm die habituellen Tagebuchnotizen – trotz extremer Müdigkeit und Erschöpfung – viel wichtiger als der Schlaf: „Ich ließ mich damals nicht irremachen, ich stand um halb vier auf und hatte den vorigen Tag notiert, wenn die Fabrikarbeit begann.“ (LTI: 301) Die körperliche Ermüdung infolge des verpflichtenden Schneeschippens im Winter 1942/43 erschwerte jedoch wesentlich die schriftliche Arbeit am Tagebuch: „Schwere Müdigkeit, Muskelschmerzen in den Waden, wunde Füße, die Hand unfähig, die Feder zu führen. Zur geistigen Arbeit unfähig.“ (ZAII: 34 [1.3.1942]) Aufgrund der Zwangsarbeit „gehorcht die Feder nicht der Hand“ (ZAII: 209 [17.8.1942]). Der diaristische Metadiskurs erhellt die oben kurz angesprochenen Schwierigkeiten und politischen Hintergründe des Entstehungskontextes.
Elemente des diaristischen Metadiskurses wie die Reflexion des Autors auf das Tagebuch, seine Poetik, Ziele und Aufgaben, auf den Prozess des Schreibens selbst sind vielen Tagebüchern eigen. Welches Ziel der Tagebuchschreibende anhand der diaristischen Selbst-Technik genau anzustreben sucht, wird in hohem Maße dadurch bestimmt, welche Arten der ‚Sorge um sich‘ (sensu Foucault 1989) im Journal praktiziert werden: Vielleicht handelt es sich um Gewissensforschung, Beichte, das Memorieren des Vergangenen zur Herstellung biographischer Kontinuität, vielleicht geht es um das Speichern von losen Gedanken als Praxis der Selbsterkenntnis, usw. (vgl. Marszałek 2003: 59). Die folgenden Überlegungen haben zum Ziel, anhand der Untersuchung der selbstreflexiven, metadiaristischen Aussagen in Klemperers Tagebüchern deren Funktionspotential auszuleuchten und die gattungspoetologischen Grundzüge von Klemperers Schreibpraxis zu ermitteln. Am diaristischen Metatext lassen sich ganz genau die kontextbedingten Kristallisierungspunkte der Tagebuchschrift feststellen, anhand derer die Rekonstruktion einer textimmanenten Gattungstheorie ermöglicht wird. Explizite Aussagen über die Aufgaben, Ziele und Inhalte des Tagebuchschreibens sowie die reflexive Thematisierung der Gattungskonventionen, – möglichkeiten und -beschränkungen sind in Klemperers Aufzeichnungen durchaus gängig. Das Augenmerk gilt den von Klemperer beabsichtigten Formen und Funktionen, die er in den vielfachen metadiaristischen Reflexionen ausformuliert. Somit wird versucht, die Grundmerkmale der von Klemperer praktizierten ‚Sorge um sich selbst‘ zu ermitteln. Das Augenmerk gilt somit dem aus den Tagebuchaufzeichnungen ablesbaren und rekonstruierbaren Schreibprozess wie auch zugleich den Voraussetzungen und den Effekten des autobiographischen Sich-Selbst-Schreibens in Victor Klemperers Tagebüchern. Im Folgenden soll zunächst der produktionsgeschichtliche Entstehungszusammenhang von Klemperers Tagebüchern im Dritten Reich dargestellt werden. Danach sollen die von Klemperer explizierten Funktionen des Tagebuchschreibens in den Mittelpunkt gerückt werden.
Produktionsgeschichtlicher Entstehungszusammenhang
Angesichts einer eingehenden Analyse der Modi und Funktionen des Tagebuchschreibens in Victor Klemperers Notizen empfiehlt es sich, den Text in seinem produktionsgeschichtlichen Entstehungszusammenhang zu erfassen. In diesem Rahmen muss zunächst die komplexe textgenetische Grundlage der Tagebücher plausibel gemacht werden, damit eine für die weitere Analyse fruchtbare Schnittstelle zwischen der lebensgefährlichen Schreiblage jüdischer Diaristen im Dritten Reich, der diversiven Funktionalität dieses Schreibens und der förmlichen Gattungsspezifik des Tagebuchs hermeneutisch freigelegt werden kann. Eine Lektüre dieser Tagebücher soll demgemäß anschaulich machen, wie sich die unterschiedlichen Funktionen – mit Rücksicht auf die spezifische Schreibsituation – im selben Text abwechseln und sogar ergänzen können.
Mit der Machtergreifung Adolf Hitlers ergeben sich ab 1933 grundlegende Verschiebungen der Schreibmotive und der thematischen Schwerpunkte. Obschon der Tagebuchschreiber in der Frühphase des Dritten Reiches noch weitgehend an das privatistische Sammelmotiv anzuknüpfen vermag, ändern sich auf Dauer die Ansprüche an das Tagebuch: Die Maxime des bloßen Sammelns wird durch ein vielmehr politisch geprägtes Verständnis des Tagebuchschreibens als ‚Chronik‘ oder ‚Zeugnis‘ abgelöst. Das private Leben wird allmählich durch die geschichtlichen Großereignisse überschattet, so dass der Tagebuchautor unsicher zum Ausdruck bringt: „Die ruhige Selbstverständlichkeit des Lebensgefühls ist hin.“ (ZAI: 97 [19.3.1934]) Der Diarist rückt in der Nazi-Zeit folglich nicht mehr bloß die eigene Lebensgeschichte – das Privat- und Berufsleben – in den Mittelpunkt, sondern setzt es sich zum Ziel, auf möglichst konsequente und repräsentative Weise vom Zeitgeschehen, von der vita publica Zeugnis abzulegen:
Bisher ist die Politik, ist die vita publica zumeist außerhalb des Tagebuchs geblieben. Seit ich die Dresdener Professur innehabe, habe ich mich manchmal gewarnt: du hast jetzt deine Aufgabe gefunden, du gehörst jetzt deiner Wissenschaft – laß dich nicht ablenken, konzentriere dich! (aber dann: Drittes Reich) (LTI: 43).
Das Dritte Reich bedeutet einen radikalen Einschnitt in die Lebenskontinuität des Diaristen. Im Zuge der Etablierung des NS-Regimes begreift Klemperer sich verstärkt als Zeuge und fokussiert zunehmend auf das politische Tagesgeschehen. Der Schreibakt fungiert demnach als sinnstiftende Aktivität in einer ansonsten sinnlos gewordenen Welt. Das Tagebuch stellt den Verschriftungsmodus eines inneren Widerstands dar: Nicht Rückzug und Verdrängung sondern genaues Beobachten und Protokollieren stehen im Mittelpunkt von Klemperers selbstauferlegtem Schreibauftrag. Das Tagebuch, mit dem der Autor bis zum Letzen „dokumentarischen Wert erreichen wollte“ (ZAII: 595 [27.9.1944]), entwickelt sich mithin allmählich von einem überwiegend persönlichen journal intime zu einer spannungsvollen Mischform von journal intime und chronikähnlichem journal externe (sensu Simonet-Tenant 2004: 113ff.).
Die faschistische Diktatur, gegenüber der Klemperer von Anbeginn an Skepsis und Argwohn hegt, stellt für den Tagebuchautor eine aus den Fugen geratene und hochgradig kontingente Zeit dar. Aber gerade dieser Zeit der Angst vor dem Verlust seiner Stelle, seiner Bürgerrechte und letztlich seines Lebens ‚verdankt‘ der Romanist paradoxerweise den Impetus zum Zeugnis-Ablegen und zum Verfassen einer Autobiographie:
Am Anfang des Dritten Reiches konnte man an Bauzäunen und halbfertigen Neubauten häufig das Spruchband lesen: ‚Daß wir hier arbeiten dürfen, verdanken wir dem Führer.‘ Das gleiche Spruchband gehört vor mein Curriculum, wenn ich es nun zustande bringe (CVI: 9f.).
Tagebuchführen im Nationalsozialismus stellt auf der einen Seite einen Kampf gegen das Vergessen dar, einen Schreibmodus, um gegen den unabänderlichen Verlust an Existenz zu kämpfen, den die Vergänglichkeit und das Fortschreiten der Zeit herbeiführen. Täglich vergewissert sich das Tagebuch-Ich des eigenen Überlebens. Andererseits stellt dieses Schreiben auch einen Versuch dar, existenzielle Traumata zu bewältigen, dem unmenschlichen Kontext des Holocaust zu entrinnen – der ihn aber dank seiner Ehe mit Eva nicht im gleichen Maße erfasste wie die überwältigende Mehrheit der jüdischen Gemeinschaft – und dem Leben erneut Sinn zu geben. Aus diesem Grund spricht Hans Dieter Schäfer (1981: 36) in Das gespaltene Bewusstsein sogar von einer „Tagebuchmode“ im Dritten Reich, weil das Tagebuch in diesem Zeitraum der Selbstorientierung des Diaristen diente oder einen Versuch darstellte, historische Arbeit zu leisten und Zeugnis für die nachfolgenden Generationen abzulegen.
Klemperer, der bereits ab dem sechzehnten Lebensjahr Tagebuch führte, tat dies anfangs vordergründig aus persönlicher „Notwendigkeit“, weil ihm „sonst [...] das Gefühl der Klarheit und sozusagen des Fertigseins mit [s]einen Erlebnissen“ fehlte (CVI: 7). Das Tagebuchschreiben war ein natürlicher, fester Bestandteil des alltäglichen Lebens. Diese habituelle Disposition zum Schreiben und Auswerten kommt deutlich in Klemperers Notizen zum Ausdruck. Das Tagebuchführen ist für ihn eine Art Selbstdisziplinierung, die ihn beschäftigt, seinen Tag ordnet und ihm ermöglicht, auf seine Identität zu reflektieren, die Stimmung seiner Zeitgenossen auszuloten und sich zeitweise über die Todesangst hinwegzusetzen. Ungeachtet der der Tagebuchpraxis prinzipiell innewohnenden Strategie, die psychologischen Auswirkungen der Verfolgung gewissermaßen zu lindern, verspürt Klemperer nicht das drängende Bedürfnis, vor den Härten des Alltags zu fliehen und sich in die heile Welt des Traumes und der Illusion zurückzuziehen.
Die Tagebücher Victor Klemperers stellen mithin keine Dokumente der Inneren Emigration dar, denn sie bezwecken keinen privaten Rückzug aus der Realität oder eine Umgehung der Behördenzensur. Die Innere Emigration lässt sich einerseits als implizit-oppositionelle Einstellung gegenüber dem Nationalsozialismus begreifen, schreibt sich aber andererseits in die Tradition einer passiven bzw. unpolitischen Innerlichkeit in der deutschen Geistesgeschichte ein. Im Gegensatz dazu verweisen ‚Kooperation‘ und ‚Widerstand‘ auf explizite Haltungen, also fixierbare Aktionen. Vor dem Hintergrund dieser Zweiteilung ist festzustellen, dass die Innere Emigration vielmehr zur ideologischen Kollaboration als zur Opposition tendierte. Es wäre dementsprechend verfehlt, jüdische Tagebuchliteratur aus dem Dritten Reich pauschal unter den Begriff ‚Innere Emigration‘ zu fassen, denn der Diaristik aktiv Verfolgter liegt in der Regel immer ein fundamentaler, radikal regimekritischer, nichtkonsensorientierter Zeugniswille zugrunde. Dem Zeugniswillen als einer der drei Hauptfunktionen diaristischen Schreibens in Victor Klemperers Tagebüchern – neben ‚Selbstbewahrung‘ und ‚Autotherapie‘ – gilt zunächst mein Interesse.
Ars memoriae: Zeugenschaft
Jeder Völkermord ist auch ein Gedächtnismord, mit den Ermordeten werden ihre Erinnerungen und Zeugnisse ausgelöscht (vgl. Krochmalnik 2007: 27). In Zeiten von Diktatur und rassistischer Verfolgung erhält die alttestamentarische Vorstellung, ein einziger Zeuge reiche aus, um das geschehene Unrecht zu bezeugen und vor dem Vergessen zu wahren, eine quasi-mythische Dimension. Die Klemperer-Notizen können teilweise als Leidensprotokoll begriffen werden: Sie stellen ein moralisches und historisches Zeugnis gegen die zu erwartende Geschichtsfälschung seitens der Täter dar. In Bezug auf jüdische Holocaust-Diaristik hält Robert Liberles (1986: 39) im Allgemeinen fest: „Die Tagebücher [jüdischer Verfolgter, A.S.] stellen an und für sich eine Trotzhandlung dar. Während die Nazis skrupulös versuchten, alle Spuren der Verbrechen zu verwischen, registrierten die Diaristen sie.“ In die Zukunft projiziert versteht sich das jüdische Tagebuch im Dritten Reich somit sehr oft als Medium einer moralischen Erinnerungspflicht, indem der Tagebuchautor der künftigen Verleugnung des Holocaust entgegenzutreten sucht. Diese Maxime der Geschichtswahrung war fast allen im Nationalsozialismus verfassten jüdischen Tagebüchern von Autoren wie Chaim Aron Kaplan, Emanuel Ringelblum, Etty Hillesum und Victor Klemperer gemeinsam.
Der polnisch-jüdische Tagebuchschreiber Chaim Aron Kaplan macht es sich nach dem Überfall auf Polen, der für die jüdische Bevölkerung eine Katastrophe darstellte und sie noch Schlimmeres vorausahnen ließ, zur Aufgabe, im Tagebuch „an die Vergangenheit in der Zukunft zu erinnern.“ (Kaplan 1967: 21 [14.9.1939]) Um das Vergangene vor dem Vergessen zu schützen, wollte auch Emanuel Ringelblum (1967: 22), der in seinem Tagebuch möglichst objektiv von den Geschehnissen im Warschauer Ghetto zu berichten versucht, einen bedeutsamen „Beitrag für den künftigen Historiker der Geschichte der Juden in Polen während dieses Weltkrieges“ leisten. Für die niederländisch-jüdische Diaristin Etty Hillesum ihrerseits bedeutete das Tagebuch angesichts des Holocaust auf ähnliche Weise einen erhofften Ort für künftiges Erinnern, indem sie sich als „Chronistin“ des jüdischen Schicksals verstand (Hillesum 2005: 166 [28.7.1942]).
Auch Klemperers diaristischem Vorhaben ist eine solche hermeneutische Ethik von Schreiben und Überleben eigen: Es stellt eine narrative Handlung dar, die sich durch die Verschriftlichung des jüdischen Umfeldes des Diaristen der totalen Auslöschung der Opfer, so als hätten sie nie existiert, entgegensetzte. Es sollte niemand mehr übrig bleiben, der sich den Anderen in Erinnerung rufen kann. In den Tagebüchern hingegen werden die Toten memoriert: „Die einzige Spur, die sie [=die Holocaust-Opfer, A.S.] hinterlassen, ist die Erinnerung derer, die sie kannten, liebten und zu deren Welt sie gehörten.“ (Arendt 1998: 898) Klemperers Einträge stellen in diesem Sinne eine sich gegen das Vergehen der Zeit richtende Strategie der Memorierung in der Schrift dar. Der Diarist bemüht sich deshalb durchgängig „um genaue Fixierung.“ (ZAII: 292 [21.12.1942])
In der täglichen Intimität des Tagebuchführens erarbeitet sich der Diarist Victor Klemperer einen schriftlichen Gegenraum, in dem versuchsweise der Nazi-Ideologie entgegengesetzte Werte artikuliert werden können. Die politische bzw. moralische Kritik am Nationalsozialismus bildet – aus historiographischer Sicht – das Herzstück der Tagebücher, in denen sich der Tagebuchschreiber noch an den Ideen des Humanismus und der Aufklärung zu orientieren vermochte. Sein diaristischer Schreibmodus stellt somit einen Versuch dar, existenzielle Traumata zu bewältigen, dem unmenschlichen Kontext des Holocaust psychologisch zu entrinnen und dem Leben erneut Sinn zu geben. Der deutsch-jüdische Tagebuchschreiber bezeichnet das Tagebuchschreiben als seinen „Berufsmut“ (ZAI: 595 [27.5.1941]), sein „Heldentum“ (ZAII: 99 [27.5.1942]), seine „Lebensaufgabe“ (ZAII: 19 [8.2.1942]) und seine „innere Verpflichtung“. (ZAII: 145 [25.6.1942])
Die Selbstdesignation als Zeuge schafft eine dialogische Situation, in der sich das Opfer an einen (künftigen) Dritten richtet. So richtet sich auch die deutsch-jüdische Ärztin Hertha Nathorff (1988: 119 [10.11.1938]) nach der ‚Reichskristallnacht‘ vom 9. November 1938 in ihrem Tagebuch an einen künftigen Rezipienten – ihr Kind: „Ich will sie [= die antisemitischen Ereignisse, A.S.] niederschreiben für mein Kind, damit es später einmal lesen soll, wie man uns zu Grunde gerichtet hat.“
In jüdischen Tagebüchern wie solchen der Hertha Nathorff geht es oft an erster Stelle um den moralischen Willen, die proliferierende Entmenschlichung im Dritten Reich möglichst penibel nachzuzeichnen. Das Pflichtbewusstsein gegenüber seiner Verschriftungspraxis und dem Akt des Schreibens im Allgemeinen stellt bei Victor Klemperer trotz der Gefahr seinen kategorischen Imperativ dar: „Man wird um geringerer Verfehlungen willen gemordet [...]. Aber ich schreibe weiter. Das ist mein Heldentum. Ich will Zeugnis ablegen, und exaktes Zeugnis!“ (ZAII: 99 [23.5.1942]) Diese von Klemperer hervorgehobene Zeugnispflicht gilt als moralische Aufforderung, die ihn als Zeugen der nationalsozialistischen Verbrechen gegen die Menschlichkeit dazu verpflichtet, das der jüdischen Gemeinschaft zugefügte Leid, das er selbst nicht nur beobachtet, sondern auch am eigenen Leibe erfährt, aufzuzeichnen. Mit Dori Laub könnte man in diesem Kontext betonen, dass dem Trauma immer die moralische Pflicht des Bezeugens und Erinnerns innewohnt (vgl. Laub 1992: 78f.).
Klemperers Leidensgenossen im ‚Judenhaus‘, die in der Regel um seine Schreibtätigkeit wussten, forderten ihn auf, ihr Schicksal im Tagebuch darzustellen. Das Tagebuch ließ somit bestimmte Leute im Judenhaus – darunter Kätchen Sara – nicht unberührt: „Sie [=Kätchen Sara, A.S.] glaubte an mein Chronistenamt, und ihrem Kindersinn schien es sich so darzustellen, als würde kein anderer Chronist dieser Zeit auferstehen als eben nur ich, den sie so häufig am Schreibtisch sah.“ (LTI: 362) Von ihr wurde Klemperer immer wieder angespornt zu schreiben: „‚Alles aufschreiben!, Karlchen‘ – oder ernsthafter: ‚Victorchen‘, sagt Kätchen Sara jetzt täglich.“ (ZAII: 195 [7.8.1942]) Die Handlungsmaxime des Zeugnisablegens im Tagebuch stellte für Klemperer angesichts der Verunsicherung im Dritten Reich eine selbststabilisierende „Balancierstange“ dar:
Mein Tagebuch war [...] immer wieder meine Balancierstange, ohne die ich hundertmal abgestürzt wäre. In den Stunden des Ekels und der Hoffnungslosigkeit, […] – immer half mir diese Forderung an mich selber: beobachte, studiere, präge dir ein, was geschieht – morgen sieht es schon anders aus, morgen fühlst du es schon anders; halte fest, wie es eben jetzt sich kundgibt und wirkt. (LTI: 19f.)
Victor Klemperers Tagebuchaufzeichnungen sind als subjektives Zeugnis objektiver Sachverhalte auf allen Niveaus ‚Orte des Erinnerns‘. In Anlehnung an Pierre Nora, Autor des zwischen 1984 und 1992 veröffentlichten siebenbändiges Werkes Les lieux de mémoire, sind Erinnerungsorte als ‚loci‘ im weitesten Sinne zu verstehen, die als eine Art künstlicher Platzhalter für das nicht mehr vorhandene lebendige Gedächtnis fungieren. Deshalb gibt es für die Opfer von Verbrechen gegen die Menschlichkeit eine Zeugnispflicht des Erlebten, wie es für die Nachgeborenen ein ‚Devoir de mémoire‘ (Pierre Nora), eine ‚Erinnerungspflicht‘ bzw. eine ‚geschuldete Erinnerung‘ geben sollte. Beide sind komplementär. In Avishai Margalits 2002 auf Deutsch erschienener Veröffentlichung Ethik der Erinnerung skizziert der Autor eine Theorie des ‚moralischen Zeugen‘, zu dem er als paradigmatisches Beispiel nachdrücklich Victor Klemperer rechnet. Der paradigmatische moralische Zeuge ist, so Margalit (2002: 75), jemand, der seinem Zeugnis einen inneren Wert zuschreibt, unabhängig davon, wozu es letztlich dienen wird. Die Hoffnung, die dem moralischen Zeugen zugeschrieben werden kann, ist eher nüchtern: Es ist die minimale Hoffnung auf das eigene künftige Selbst, aus dem eigenen Bedürfnis, dem Erlebten etwas entgegenzusetzen, eine intime Gegenöffentlichkeit zu schaffen, ohne Hoffnung auf einen moralischen Blick von außen (vgl. ZAII: 67).
Der moralische Zeuge ist immer auf sekundäre Zeugen angewiesen, die seine Botschaft aufnehmen. Erst über diese Zwischenschaltung, über die Adressierung bzw. das Appellieren an eine nichtbetroffene moralische Gemeinschaft, die selbst keine eigene Institution hat, wird das traumatisierte Opfer in seiner Opferschaft anerkannt: „Erst durch Einbeziehung dieses Dritten (terstis), des unbeteiligten Adressaten, entsteht jene Appellationsinstanz, die das Zeugnis ermöglicht, indem die Geschichte des Opfers Gehör findet und sein Zeugnis bezeugt wird.“ (Assmann 2007: 45).
Ein anderes Merkmal des moralischen Zeugen, wie Aleida Assmann (2007: 45f.) in Anlehnung an Avishai Margalit hervorhebt, ist die dem Zeugnis innewohnende Wahrheitsmission (vgl. hierzu z.B. ZAI: 474 [27.6.1939]; ZAI: 602 [6.7.1941]). Dieser Wille zur Wahrheit steht im direkten Gegensatz zum Bedürfnis seitens der Täter, die begangenen Verbrechen zu leugnen, zu verdrängen, zu vergessen, zu fälschen oder zu beschönigen. Diese beiden Seiten sind komplementär zueinander, da dem Wunsch des Täters nach Vergessen und Verheimlichung, der bereits Teil des Verbrechens selbst ist, der Wunsch des Opfers entspricht, gegen die Strategie des Verbergens Zeugnis abzulegen. Trotz aller Unsicherheit, ob er das Aufgezeichnete je wird weiterführen können und ob das Tagebuch den Krieg überstehen wird, ist es genau dies, was Klemperer hofft: „[I]ch möchte auch gar zu gern der Kulturgeschichtsschreiber der gegenwärtigen Katastrophe werden. Beobachten bis zum letzten, notieren, ohne zu fragen, ob die Ausnutzung noch einmal glückt.“ (ZAII: 12 [17.1.1942]) Die Angst vor der Gefahr des Entdecktwerdens stellt vor diesem Hintergrund einen kontinuierlichen Themenkomplex dar.
Trotz der direkten Betroffenheit, Angst und Panik angesichts der Nazi-Tötungsmaschine sammelt sich der Tagebuchautor immer wieder und schreibt „bis zum letzten“ weiter. Im Hinblick auf eine beängstigende Nachricht notiert der Autor beispielsweise: „Mein Herz streikte in der ersten Viertelstunde vollkommen, später war ich dann vollkommen stumpf, d.h., ich beobachtete für mein Tagebuch.“ (ZAII: 658 [13.2.1945])
Die Verschränkung von Zeugenschaft und Lebenswillen stellt ein den Klemperer-Tagebüchern eingeschriebenes Spannungspotential dar, das den Notizen ihre kraftvolle Stimme verleiht. Nachdem im Vorangehenden der Blick auf die Tagebücher als Zeugnisliteratur gelenkt wurde, soll zunächst die – mit der Zeugnisfunktion eng verbundene – Rolle der Tagebücher als Medium der Selbstbewahrung plausibel gemacht werden.
Ars vanitatis: Selbstbewahrung
Im Februar 1942 vermerkt Victor Klemperer im Tagebuch:
Immer das gleiche Auf und Ab. Die Angst, meine Schreiberei könnte mich ins Konzentrationslager bringen. [...] Das Gefühl der Vanitas vanitatum, des Unwertes meiner Schreiberei. Zum Schluß schreibe ich doch weiter, am Tagebuch, am Curriculum. (ZAII: 19 [8.2.1942])
Das Vanitas-Motiv, das – wie im Barock – Wert und Verfall miteinander verbindet, begleitet in regelmäßigen Abständen die metadiaristischen Aussagen Klemperers. Es bringt die Spannung zwischen menschlicher Demut und menschlichem Selbstbewusstsein zum Ausdruck und ruft die eigene Vergänglichkeit – das memento mori – ins Gedächtnis. Das Zitat „Vanitas vanitatum“, das seinen Ursprung im Alten Testament (Pred. 1,2; 12,8) findet, gilt Klemperer als selbstkritisches Gegengewicht zur – immer wieder selbsteingestandenen – Eitelkeit. Die Hellsichtigkeit, mit der der Tagebuchschreiber in der geradezu obsessiven Selbstreflexion diese Eitelkeit zugibt, sticht in diesem Zusammenhang ins Auge.
Im Zentrum steht aus der Perspektive des Diaristen die Hoffnung, im und durch den schriftlich fixierten Text fortzubestehen. Die Vergänglichkeit stellt grundsätzlich einen der primären Antriebe des selbstbiographischen Schreibens dar, und dementsprechend geistert „der Gedanke des Ausgelöschtseins“ als Schreckgespenst kontinuierlich durch Klemperers Tagebücher (ZAI: 630 [23.6.-1.7.1941]):
Wer seine Vita schreibt, folgt im Letzten bestimmt immer nur dem einen, dem ganz sinnlosen und ganz unwiderstehlichen und ganz unausrottbaren Triebe: Er mag es nun eingestehen oder nicht, es geht ihm ums Fortdauern, er möchte persönlich länger hier sein, mit seinem ganzen Ich, mit Haut und Haaren, auch wenn Ich längst nicht hier ist, einerlei, wie man sich das Anderwärts vorstellt, als Nichts oder irgendeinen Himmel oder irgendeine Hölle oder Schattenwelt. (CVI: 7f.)
Seine Aufzeichnungen sollen ihn an eine Nachwelt vermitteln und über den Tod hinaus in einem materiellen Medium aufbewahren, gleich einer typographischen Verewigung an einer Wand, die besagt: ‚Ich war hier‘. Dem Tagebuch kommt auf diese Weise über seine Funktion als Speichermedium hinaus die Bedeutung eines Kommunikationsmediums zu, in dem sich die in den Notizen aufgezeichnete Subjektivität an ein potentielles, künftiges Gegenüber adressiert. Dies erlaubt es dem Schreibenden, jenseits von Einsamkeit persönlichen Kontakt und Intimität zu imaginieren.
Paradoxerweise dient das autobiographische Schreiben einer Graphogenese des Selbst: Die Sinnesgeschichte des Schreibens wird vor diesem Hintergrund geradezu identisch mit der eigenen Lebensgeschichte. Das Dasein wird in die Schrift ‚aufgesogen‘ und überlebt als materielles Zeichen die körperliche Existenz des Autobiographen. Der Leser gibt der „Stimme-von-jenseits-des-Grabes“ ein Gesicht, das den Autobiographen metonymisch wiederbelebt. Das Schreiben einer Autobiographie oder eines Tagebuchs wird auf diese Weise zu einer Art Abtötungsverfahren des eigenen Leibes, um ein neues physisches Selbst auferstehen zu lassen, einen Schriftkörper, der die Erlösung bringen soll. Der physische Körper des schreibenden Ich wird vom autographen Körper aufgenommen und ausgelöscht (vgl. Schärf 2002: 196ff.). Es ist kein Zufall, dass bei Klemperer solche Explizierungen der Schreibmotivation auf intensivste Weise während des Holocaust – ab 1941 – vorkommen. An der Lust an der Beständigkeit der Schrift sowie an der Hoffnung auf das ‚Fortdauern‘ des Ich lässt sich bei näherem Zusehen eine gegen das Vergehen der Zeit gerichtete Strategie der Memorierung ablesen.
Nach der Dresdener Bombennacht vom 13. Februar 1945 flüchteten Victor und Eva Klemperer über Pirna nach Falkenstein ins Vogtland, wo sich Hans Scherner, der Leipziger Apothekerfreund, niedergelassen hatte. Bei ihm fanden sie für ein paar Tage Unterschlupf. Trotz der relativen Sicherheit, in der sich der Diarist dort befand, machte er sich nicht nur Sorgen um das eigene leibliche Überleben, sondern auch um dasjenige seiner Manuskripte. Es sieht so aus, als wären die Manuskriptblätter ein materieller Ersatz für die körperliche Existenz ihres Verfassers. Sie sind eine Art Versicherung gegen einen möglichen Tod, der viel symbolisches Gewicht beigelegt wird. Die geringe ‚Überlebenschance‘, die Klemperer im März 1945 den Tagebuchheften und sonstigen Arbeiten zuweist, beunruhigt ihn zutiefst:
Seit wir hier angekommen, dürften meine Chancen des Überlebens einigermaßen auf 50 Prozent gestiegen sein. Meinen Manuskripten in Pirna aber, die keinerlei Kopie mehr haben und alle Arbeit und alle Tagebücher umfassen, gebe ich höchstens 10 Prozent Chance. (ZAII: 691 [7.3.1945])
Die Sorge um das körperliche Überleben des Holocaust geht in den Tagebuchnotizen kontinuierlich mit beunruhigten Überlegungen hinsichtlich des Schicksals der Manuskripte einher. Beide Kümmernisse sind während des Holocaust geradezu unlöslich miteinander verschränkt. Vor diesem Hintergrund ist der Gedanke, die Früchte seiner im Diarium vorbereiteten Arbeiten endgültig verloren gehen zu sehen, dem Diaristen äußerst schmerzhaft (vgl ZAII: 605 [17.10.1944]).
Parallel zur Zielsetzung der schriftlichen Selbstverwirklichung macht sich stets auch ein resignativer Nebenton bemerkbar: „Wozu auch die Mühe -? Wo doch jede Stunde eine neue und sehr wohl die endgültige Katastrophe bringen kann“ (CVI: 324) Aber gerade „[i]n der ständigen Lebensgefahr als Jude“ (ZAII: 479 [27.1.1943]) wird bei Klemperer der innere Ruf nach Selbstverschriftlichung immer lauter: Einerseits relativiert der Autor angesichts der Leiden anderer im Nationalsozialismus den persönlichen Wert seiner autobiographischen Schriften. Vor diesem Hintergrund, so bezeugt der Tagebuchschreibende, „quält mich die Idee der Wertlosigkeit. Wie gleichgültig, ob ich ein Buch mehr oder weniger hinterlasse! Vanitas...“ (ZAI: 6 [21.2.1933]) Andererseits aber wird der ‚eitle‘ Anspruch umso schärfer, dringlicher und wirkungsvoller ausgesprochen in einem Moment, in dem er dem Tode in die Augen zu schauen glaubt. Klemperers Schreiben im Nationalsozialismus stellte demnach den Versuch dar, zeitweilig die Todesangst dem Vergessen anheim zu geben. Schreiben und Studieren helfen dem Diaristen, über die Todesgedanken und angebliche Zweck- und Wertlosigkeit des Lebens hinwegzukommen. In seinem Silvesterfazit 1944 fasst er das Credo des Tagebuchführens folgendermaßen zusammen:
Irgendwie mich mit dem Todgedanken abzufinden, vermag ich nicht; religiöse und philosophische Tröstungen sind mir vollkommen versagt. Es handelt sich nur darum, Haltung bis zuletzt zu bewahren. Bestes Mittel dafür ist die Versenkung ins Studium, so tun, als hätte das Stoffspeichern wirklich Zweck. (ZAII: 634 [31.12.1944])
Entgegen dem Grauen vor „dem Auslöschen in absoluter Einsamkeit“ (ZAII: 182 [26.7.1942]) hält der Diarist an seinem Tagebuch wie an einer existenziellen Rettungsboje fest: „Ich rette mich immer wieder in das, was jetzt meine Arbeit ist, in diese Notizen, meine Lektüre.“ (ZAII: 182 [26.7.1942]) Der Tagebuchtext wird in der Folge, so die utopische Wunschvorstellung des Diaristen, zum Sieg über den möglichen Untergang von dessen Autor und stellt somit die materielle „Inkarnation einer Selbstrepräsentation“ dar (Chiantaretto 2002: 8). Die postum ausgerichtete ‚Fleischwerdung‘ des Namens erhält ab 1942 – als die Massenvernichtung immer erdrückendere Ausmaße annahm – eine Schlüsselrolle in der Funktionalisierung des Tagebuchschreibens.
Das Tagebuch befindet sich vor diesem Hintergrund auf dialektische Weise zwischen Leben und Tod; es ist gleichzeitig autothanatographisch und autobiographisch: Einerseits schreibt man, um nach dem Tode weiterzuleben, andererseits impliziert diese Reflexion, dass der Tod bereits während des Lebens aktiver Bestandteil des Seins ist. Der Zwiespalt zwischen Selbstgefälligkeit und Selbstrelativierung ist in Klemperers Tagebuch kaum überhörbar und meldet sich lautstark zu Wort: Intellektuelle Eitelkeit vor dem schicksalshaften Hintergrund des Holocaust erscheint dem Tagebuchschreiber sowohl unangebracht als auch unvermeidlich. Die diaristische ‚Vanitas‘ ist spannungsvoll und problematisch, weil sich die Unbeständigkeit der Zeit in der Unbeständigkeit des Selbstbildes, der persönlichen Identität niederschlägt. Jean Starobinski (1987: 442) rückt diesbezüglich das ungemein schwierige Verhältnis von unerbittlichem Fortgang der Zeit, der durch die Eintragungsstruktur im Tagebuch emphatisch hervorgehoben wird, und Selbstbezogenheit des Individuums in den Vordergrund: „Narziß bietet der Zeit keine Angriffsfläche; er geht in der Stetigkeit eines gleichbleibenden Bildes auf. Die Zeit der Uhren könnte ihn nur unglücklich machen, indem sie ihn daran hinderte, mit seiner eigenen Dauer eins zu sein.“
Im Gegensatz zu den Tagebüchern aus der Weimarer Zeit, die in gewissem Maße noch einen unproblematischen privaten Selbstbezug erlaubten, hinterfragen die Aufzeichnungen aus dem Zeitraum des Dritten Reiches die Legitimität der Vanitas des Akademikers, der inmitten menschlicher Misere augenscheinlich nach wie vor um soziale und berufliche Statuserhöhung bemüht ist. Tagebuch- und Autobiographieschreiben waren im Dresdener ‚Judenhaus‘ allerdings ein äußerst gefahrvolles Unternehmen, weshalb sich die Klemperers bald genötigt sahen, die Manuskripte an einen sicheren Ort zu schaffen, was aber aufgrund möglicher Kontrollen wiederum ein außerordentlich riskantes Unterfangen darstellte.
Die materielle Erhaltung seiner Notizen stellt eine wichtige psychologische Stütze für Klemperers Durchhaltevermögen dar. Vom materiellen Überleben der Tagebuch-, LTI- und Autobiographiehefte erhofft sich der Autor, dass er nach seinem Tode „in [s]einen Werken fortlebe.“ (ZAII: 595 [27.9.1944]) Das schreibende Ich versucht, sich selbst im Text hervorzubringen und zu erhalten und hegt dabei die Hoffnung, sich durch die schriftliche Spur seines Namens eine bleibende Existenz zu versichern, so als wolle es der Nachwelt sagen: ‚Ich war hier‘. Die Notate heben die von den Nazis gewollte Auslöschung teilweise auf, indem jeder Eintrag im Tagebuch – bereits auf rein materieller Ebene als Schriftspur auf dem Papier – das Überleben seines Autors bezeugt. Das Oeuvre soll somit, so Klemperers Hoffnung, nach dem Tode des Autors eine voix d’outre-tombe darstellen. Das Schreibmotiv des Überlebens im Werk, das den Diaristen „immer wieder am Schreibtisch fest[hält]“ (CVI: 381), stellt die libidinöse Triebfeder der Selbstverschriftlichung dar.
Das Überdauern des Namens ist eines der Grundziele von Klemperers Schreibpraxis. Auf theoretischer Ebene, so hebt Thomas Bönning (2000: 352) in Anlehnung an Jacques Derrida und Paul de Man hervor, versucht der Autor einer Autobiographie stets, seinem Eigennamen eine Geschichte zu verleihen. Der Eigenname ist immer schon der Name eines Toten, das vorweggenommene Gedächtnis des körperlichen Verschwindens (vgl. Bönning 2000: 351). Aus Jacques Derridas Auseinandersetzung mit der Politik des Eigennamens in seinem Essay Autobiographien (vgl. Derrida und Kittler 2000: 7-63) geht hervor, dass das Überleben im und durch den Namen der Struktur der Zeugenschaft folgt: Die Nennung des Personalpronomens ‚Ich‘ stellt als autobiographischer Akt ebensosehr Archivierung wie Performativität dar, sowohl Aufbewahrung als auch Hervorbringung des Selbst. Der Individualismus des Tagebuchschreibenden läuft allerdings nicht auf eine hermetische Abschottung von der Außenwelt hinaus. Das diaristische Ich zieht sich nicht ins Tagebuch wie in eine realitätsabgehobene Vorkammer des Todes zurück. Vielmehr liegt Klemperers Tagebuchschreiben der Konnex zwischen Selbstbezogenheit und Zeugenschaft, Selbst und Geschichte zugrunde. Die Erinnerung an sowohl Ego wie auch Alter soll dank dem Tagebuch gleichsam in die Zukunft hinübergerettet werden.
Im Vorhergehenden galt das Hauptinteresse der Überlebensenergie, die Klemperer aus dem Tagebuchschreiben schöpfte, das auf Selbsterhaltung bzw. -reproduktion in der Schrift angelegt war. Hierbei stellte sich heraus, dass die phänomenologische Selbstrettung unablösbar mit dem ethisch-intellektuellen Verantwortungsbewusstsein bzw. -drang verbunden ist, nicht nur seine, sondern auch die Leiden seiner Schicksalsgefährten für die Nachwelt zu protokollieren. In den Tagebuchaufzeichnungen tritt das von Klemperer geäußerte Verlangen, den Holocaust zu „überleben und Zeugnis abzulegen“ prägnant hervor (ZAII: 255 [9.10.1942]). Zur Funktion der Zeugenschaft und der Selbstbewahrung gesellt sich zum Schluss die autotherapeutische Wirkung, die der Diarist mit dem Schreiben erzielte. Darum soll im Folgenden aus metadiaristischer Perspektive die psychologische Funktion des Tagebuchschreibens als Mittel zur Selbstbeschäftigung, zum Spannungsabbau und zum Vergessen der Verfolgung in den Mittelpunkt gerückt werden.
Ars oblivionalis: Autotherapie
Victor Klemperer, der in seinem Leben aus beruflichen Gründen vieles geschrieben und publiziert hatte, konnte seiner wissenschaftlichen Arbeit im Dritten Reich nicht mehr nachgehen, was ihm besonders schwer fiel: „Ich, der Professor, der Senator, der Staatskommissar, der im Brockhaus Verzeichnete. Deine Ehre ist von außen nicht zu verletzen? Gerede! Ich fühle doch wie verletzt sie ist.“ (ZAI: 632f. [23.6.-1.7.1941]) Das Tagebuchschreiben im Dritten Reich stellte vor diesem Hintergrund kein Luxus-Schreiben wie zuvor mehr dar, sondern einen Bewältigungs- und Selbstbehauptungsversuch, der es ermöglichen sollte, durch intellektuelle Beschäftigung gewissermaßen Erleichterung, Wohlbefinden, Zukunftsperspektive und Mut zu finden (vgl. Tölle 1999: 357).
Das Tagebuch hatte in der Nazi-Zeit somit eindeutig eine autotherapeutische Funktion als Überlebenshilfe. Der Autor hatte das Verlangen, über die gefährdete und reduzierte Existenz hinwegzuleben und sich in seine Schreibtätigkeit ‚einzugraben‘ (vgl. ZAI: 424 [20.9.1938]; vgl. CVI: 324). Die Gattung Tagebuch stellte ein wichtiges Medium dar, um die Last der erstickenden und todumwitterten Gegenwart abzutragen. Mit der schreibenden Selbstdisziplinierung korrespondiert eine stoische Haltung: Besonders in Momenten der akuten Bedrohung und des Leidens kam es Klemperer darauf an, die Emotionen unter Kontrolle zu halten. Durch die ständige Mühe der schriftlichen Arbeit konnte sich das Ich einen Ort schaffen, an dem es sich kurzfristig sicher zu fühlen vermochte. Auf diese Weise versuchte der Diarist durch sein Schreiben – das für ihn „einziges Gegengift gegen die Verzweiflung der Lage“ war (ZAI: 219 [29.9.1935]) – das eigene Ich nicht gänzlich zu verlieren: „An diesen Notizen mitten im Chaos und öden Herumstehen habe ich ein klein bißchen Kraft zurückgewonnen.“ (ZAII: 531 [26.5.1940]) Analog heißt es gut zwei Jahre später: „Ich arbeite über das Grauen vor dem Mord in der Zelle hinweg.“ (ZAII: 192 [2.8.1942])2.
Das autotherapeutische Potential des diaristischen Schreibaktes kommt auch im Tagebuch der in Auschwitz ermordeten Etty Hillesum deutlich zum Tragen. Die Funktion der psychischen Entlastung bringt sie mit dem Bildspender der „Sense“ zum Ausdruck, mit der sie die psychischen Spannungen und Probleme „wegmähen“ möchte. In der letzten Eintragung heißt es vor diesem Hintergrund: „Früh am nächsten Morgen. Ich mähte mit einem kleinen Bleistift wild um mich wie mit einer Sense, kann aber die vielen Gewächse meines Geistes nicht fällen.“ (Hillesum 2005: 206 [12.10.1942])
Die performative Eigenschaft des Tagebuchschreibens geht auf ihre Bedeutung als Instrument der ‚Sorge um sich‘ (sensu Foucault 1989) zurück. In Victor Klemperers Tagebüchern zieht sich der Topos des Vergessens aus dieser Perspektive wie ein roter Faden durch den metadiaristischen Diskurs aus der Nazi-Zeit: „[E]s ist ganz gleichgültig, womit ich über den Rest meiner Zeit hinwegkomme. Nur irgend etwas machen und sich selbst darüber vergessen.“ (ZAI: 32 [17.6.1933]) Auf ähnliche Weise schreibt der Diarist im Jahre 1943: „Es fällt mir schwer, so weiterzuarbeiten, als wenn mir Zeit bliebe, etwas zu vollenden. Aber Arbeiten ist das beste Vergessen.“ (ZAII: 344 [15.3.1943]) Das Tagebuch lässt sich somit als Gebrauchstext im Dienste der alltäglichen Arbeit der Selbst-Gestaltung verstehen, die dem Diaristen gewissermaßen hilft, die Angst für einen Moment in den Hintergrund zu drängen.
Fazit
Im Hinblick auf die funktionale Ausrichtung von Victor Klemperers Tagebüchern lässt sich abschließend sagen, dass die drei im Vorgehenden erörterten Funktionsmomente – Zeugenschaft, Selbstbewahrung und Autotherapie – unlösbar miteinander verschränkt sind. In den Tagebuchaufzeichnungen tritt das von Klemperer geäußerte Verlangen, den Holocaust zu „überleben und Zeugnis abzulegen“, prägnant hervor (ZAII: 255 [9.10.1942]). Aus seinen Tagebüchern wird somit eindrucksvoll ersichtlich, wie „Überleben und das Bedürfnis, Zeugnis abzulegen, eins werden.“ (Young 1992: 37) Das Zeugnis-Ablegen über das äußere Unrecht und die erhoffte Graphogenese in der Schrift verschafften dem Diaristen wichtigen Lebens- bzw. Überlebenssinn, der in psychologischer Hinsicht eine nicht zu unterschätzende Rolle für seine persönliche Widerstandskraft gegen den Nationalsozialsozialismus und für sein Überleben im Holocaust spielte.