Hermann Harder hat in einem Artikel über „Heinrich Mann et Stendhal” angemerkt, daß keine systematische stilistische Untersuchung der Bezüge vorliegt, die das Werk Heinrich Manns mit dem des französischen Realisten verbinden (1983: 217). Dieser Mangel trifft in verschärftem Maß auf Heinrich Manns Der Untertan zu, das zwar als das wohl bekannteste literarische Porträt der wilhelminischen Zeit intensiv erforscht ist, dessen intertextuelle Verfahren aber bislang auch über den Stendhal-Bezug hinaus vernachlässigt worden sind.1 Die Gründe für diese Forschungslücke sind in einer die Rezeption des Romans von Beginn an prägenden Unterbelichtung zu suchen, die den analytischen Horizont bis in die jüngere Zeit auf die Realismusfrage und den Satirebegriff – und dabei auf den Bereich der unmittelbar kontextuellen Referenz des Werks – beschränkt hat. Da zudem das Frankreichverhältnis im Werk Heinrich Manns trotz einiger neuerer Studien noch immer wenig erforscht ist,2 und zwar gerade dann, wenn konkrete Literaturbeziehungen interessieren und nicht allgemein Heinrich Manns „Frankreich-Chiffre” (Stein 2002: 71)3, wird klar, warum weiterhin Bedarf daran besteht, Der Untertan auf stilistische Vorbilder hin zu befragen, und insbesondere auf sein Verhältnis zu dem sich aus mehreren Gründen als Referenz anbietenden Roman Le Rouge et le Noir (1830) Stendhals.
1.Vorbemerkungen zur ‚Stendhal-Chiffre’
Vor der Analyse des Stendhal-Bezugs in Der Untertan sind einige Vorbemerkungen angebracht, die den möglichen Vorwurf eines literaturgeschichtlichen Anachronismus’ betreffen. Denn auf den ersten Blick scheint es so, als sei der Stendhal-Bezug bei Heinrich Mann erst spät zu Tage getreten – jedenfalls markant später als Abfassungs- und Publikationszeitraum von Der Untertan, die in die Jahre 1906 bis 1918 fallen. So datiert der große Stendhal-Essay des Autors in das Erscheinungsjahr des Essaybands Geist und Tat. Franzosen 1780-1930, also in das Jahr 1931. Da dieser Band schon unter dem Eindruck der Krise der Weimarer Republik verfaßt wurde, scheint eine direkte Beziehung zur Kaiserreich-Trilogie des Autors abwegig zu sein – auch wenn Heinrich Mann in diesem Essay Le Rouge et le Noir als ästhetisches Vorbild evozierte und mit eindeutiger Aktualisierungsabsicht las. Wenn Stendhal glaubte, so heißt es in diesem Essay, „niemals habe es in der Welt ein solches Maß von Heuchelei gegeben wie 1820”, habe er geirrt, „da auch wir es heute wieder feststellen müssen” (H. Mann 1997: 34). Wenn Stendhal von seinen Zeitgenossen als unsozial empfunden worden sei und sie ihm mißtraut hätten, wird fortgefahren, so ließe sich dies „wieder verstehen in Zeiten, die, wie heute, den Hang zur Gemeinschaft im Geistigen falsch anwenden” (H. Mann 1997: 40). Wenn Julien Sorel in Le Rouge et le Noir tapfer gekämpft habe, und auch wenn er vor allem sittlich unterlegen gewesen sei, „[s]o geht es fast allen hier bei uns, das kennen wir, gerade deshalb ist der Lebenskämpfer Julien seither in so vielen Gestalten späterer Romane und Stücke aufgetreten” (H. Mann 1997: 45).
Es ist angesichts solcher Aussagen, die Tapferkeit und Kampfeswillen Sorels in einer diesen Eigenschaften wenig zuträglichen Zeit als überzeitliches Modell evozieren, wohl angebracht, von einer ‘Stendhal-Chiffre’ Heinrich Manns zu sprechen, die auf der Evidenz fortgesetzter Aktualität besonders von Le Rouge et le Noir basiert. Als eine solche Evidenz erscheint der Stendhal-Bezug erneut in den Lebenserinnerungen des Autors – Ein Zeitalter wird besichtigt –, die er im US-amerikanischen Exil schrieb und 1946 publizierte. In dieser einem historischen Fresko der europäischen Geschichte seit der Französischen Revolution gleichenden Autobiographie wird Julien Sorel als Vertreter der ‘müden Jugend’ der nachnapoleonischen Zeit betrachtet, als „dunkle Kehrseite der glänzenden Jugendjahre mit dem großen Mann [= Napoleon – F.E.], die seinem Autor erlaubt gewesen waren” (H. Mann 2001: 15), verstanden und damit zur eigenen Situation als Exilant und von den Nazis Verfolgter in Beziehung gesetzt.4 Erneut betrifft die Korrelation Stendhals mit der eigenen Lebenswelt, die schon im Stendhal-Essay formuliert worden war, nur indirekt Der Untertan.
Der literarhistorische Verdacht, daß der Stendhal-Bezug in Der Untertan anachronistisch sein könnte, verbietet eine vergleichende Lektüre von Der Untertan und Le Rouge et le Noir allerdings nicht. Zu eindeutig ist, daß sich der Autor schon sehr früh bewußt auf die großen Werke der französischen Literatur bezogen hat: “[L]’influence littéraire française, Heinrich Mann l’a toujours recherchée, et il l’a fait consciemment” (Harder 1983: 218). Le Rouge et le Noir beispielsweise, das Heinrich Mann in mehreren Ausgaben besaß (H. Mann/Bertaux 2002: 588), hatte der Autor bereits Ende des 19. Jahrhunderts rezipiert.5 Warum hätte er sich also nicht bereits bei der Abfassung von Der Untertan – bereits vor Stendhal-Essay und Ein Zeitalter wird besichtigt – auf diesen Roman beziehen sollen?
Der Rückgriff in Der Untertan auf Stendhals Le Rouge et le Noir ist gleichwohl auch deshalb so naheliegend, weil die erwähnte ‘Stendhal-Chiffre’ bei Heinrich Mann schon vor 1931 zu beobachten ist, und zwar in seiner Korrespondenz. Es zeigt sich in einem der ersten an Félix Bertaux adressierten Briefe (vom 19. Oktober 1922), den er anläßlich der Publikation der französischen Übersetzung von Der Untertan von Paul Budry im Herbst 1922 verfaßte. Darin heißt es:
Was den ‘Untertan’ betrifft, sprechen Sie selbst meinen besten Trost aus. Es ist nie verloren, wenn man des états d’esprit analysiert hat, die un fait historique sind. Auch Le Rouge et le Noir war bei seinem Zeitalter nicht beliebt, aber es hat das wahre Bild jenes Zeitalters, oder sein glaubwürdigstes Bild, nun schon 100 Jahre lang aufbewahrt (H. Mann/F. Bertaux 2002: 39-40).
Hier kommt in direkter Analogie zu Der Untertan zur Sprache, was Heinrich Mann im Stendhal-Essay als Zeitroman bezeichnen sollte (H. Mann 1997: 48). Tatsächlich mußte nach 1918 auf der Hand liegen, daß die „Geschichte der öffentlichen Seele unter Wilhelm II.”, wie der Untertitel des Romans bis 1914 hatte lauten sollen, als Abgesang auf ein ‘Zeitalter’ – die wilhelminische Zeit – zu verstehen war. Ebenso offensichtlich mußte es für Heinrich Mann aber auch sein, darin eine Parallele mit Stendhals 1830 publizierter “Chronique de 1830”, dem Untertitel von Le Rouge et le Noir, zu erkennen, also einem Roman, der eine im Jahr der Fertigstellung des Werks endende Epoche, die der französischen Restauration, vor Augen hatte.6 Sicherlich ist der Hintergrund der Briefpassage die von Heinrich Mann betonte, auch nach 1918 andauernde Unmöglichkeit, eine Demokratie zu verwirklichen (H. Mann/F. Bertaux 2002: 39). Die von ihm angedeutete zufällige Parallele zwischen beiden Zeitromanen evoziert jedoch, daß er in Der Untertan in Anlehnung an Le Rouge et le Noir den problematischen “état d’esprit” des eigenen Zeitalters festhalten wollte. Er deutete also selbst eine Lesart an, die auf den Stendhal-Bezug in Der Untertan hinweist. Diese Lesart möchte ich im Folgenden aufgreifen.
2. ‚Umgekehrte’ Bildungsromane
Da nicht nur der Intention des Stendhal-Bezugs in Der Untertan auf den Grund gegangen werden soll, sondern auch seiner literarischen Gestaltung Rechnung zu tragen ist, bietet sich die generische Form der Romane Stendhals und Heinrich Manns als Ausgangspunkt an. Die gänzlich implizite Intertextualität erscheint in Der Untertan zunächst auf einer allgemeinen Ebene als Resultat eines Verfahrens formaler Bezugnahme. Sie ist Ergebnis der Nachahmung und Parodie eines Erzählmodells, das Heinrich Mann in Le Rouge et le Noir vorgeprägt fand: der episodischen Erzählung davon, wie es einem zum Protagonisten erhobenen Heuchler mit einer außergewöhnlich ausgeprägten Anpassungsfähigkeit an sein soziales Umfeld gelingt, in einer moralisch problematischen und sozial rückständig wirkenden Gesellschaft aufzusteigen. Als Erklärung dieser Strukturanalogie bietet sich die jeweils problematisch gewordene Erbschaft des Bildungsromans, auf die sowohl die Heinrich Mann-Forschung (z.B. Gnettner 1993: 37)7 als auch auch die critique Stendhals (z.B. Demay/Pernot 1995: 23-24)8 verweist, auch wenn die Problematisierung bei beiden Autoren anderen literarischen Traditionen galt. In Le Rouge et le Noir wird die sowohl pikaresk wie pädagogisch geprägte Tradition des roman d’apprentissage der Aufklärung umgewertet. Die Heinrich Mann-Forschung hat Der Untertan als ‚umgekehrten’ Bildungsroman verstanden (z.B. Emmerich 1980: 51-61). In beiden Fällen ist mit der Umkodierung der entsprechenden literarischen Traditionen ein gestalterischer Anspruch verbunden, der in den Bereich des Zeitromans führt und eine Lektüreachse bereitstellt, die beiden Romanen gerecht wird: Die ‘mißgebildete’ Entwicklung der Protagonisten Diederich Heßling (Der Untertan) und Julien Sorel (Le Rouge et le Noir) und ihre freilich unterschiedlich ausgeprägte Verkümmerung vom Ich zum Rollen-Ich (Imm 1988: 96) läßt sich als eine literarisch inszenierte Kritik an den herrschenden gesellschaftlichen Verhältnissen verstehen. Im Falle Heinrich Manns ist diese Textintention offensichtlich, hat er doch in Diederich Heßling eine literarische Figur geschaffen – den „widerwärtig interessante[n] Typus des imperialistischen Untertanen”, wie er in Reichstag (1911) schrieb (H. Mann 2005: 31) –, die die charakteristischen Züge ihrer Ära verschärft und deren historische Tendenzen im Sinn des ‚Über-Realismus’ des Autors in kritischer Absicht zusammenzieht. Heßling wurde entsprechend als „Epochen-Typus” (Gnettner 1993: 65; auch Lützeler 1983) gedeutet. Die Frage, inwiefern in Le Rouge et le Noir tatsächlich etwas Ähnliches versucht wird, soll in der Folge noch gestellt werden. Es steht anhand der zitierten Briefpassage jedoch fest, daß Heinrich Mann Julien Sorel als eine ebenso repräsentative Figur für ihr Zeitalter angesehen hat wie Heßling.9 Die Annahme, daß sowohl in Le Rouge et le Noir als auch in Der Untertan der figuralen Typisierung (im Bereich der Wirklichkeitsauffassung) eine das Zeitalter kritisch beleuchtende Deutungsabsicht (im Bereich der Wirklichkeitskritik) zugrunde liegt (Werner 1977: 5), kann sich auf Heinrich Mann selbst berufen. Sie führt zur zweiten – funktional argumentierenden – Lektüreachse, auf der eine Parallellektüre – neben den konstatierten Gattungsmerkmalen beider Werke – beruhen sollte.10
Ist vor diesem Hintergrund der intertextuelle Bezug auf Le Rouge et le Noir in Der Untertan aber auch stilistisch gestaltet worden? Zur Klärung dieser Frage soll in einer vergleichenden Analyse der Lebensläufe der Protagonisten, und insbesondere in der sequentiellen Analyse zentraler Episoden ihres sozialen Aufstiegs, zunächst auf das Motiv der Heuchelei eingegangen werden. Dabei zeigen sich auf episodischer und motivischer Ebene weitere Ähnlichkeiten zwischen den beiden Texten und ihren Protagonisten. Es erweist sich aber auch, daß die Figur des Heßling als Epochen-Typus ab einem genau bestimmbaren Punkt der Romanhandlung antithetisch zu Sorel konzipiert ist. Intertextualität meint dann nicht mehr nur Imitation des Stendhalschen Modells und ihres gesellschaftskritischen Potentials, sondern auch seine Parodisierung mit der Absicht, die Figur Heßling und dessen Gegenwart – den „ganz auf Macht gerichtete[n] Sinn des Wilhelminischen Imperialismus” (H. Mann 2004: 612)11 – durch ihre Kontrastierung mit Sorel und dessen sozialer Welt auf einer zweiten historisch-allegorischen Deutungsebene kritisch zu hinterfragen. Insofern erweitert die von mir gewählte Perspektive den bereits gut erforschten Vergleich zwischen der Geschichte des nachrevolutionären Frankreich und der Geschichte Deutschlands im Werk des politischen Publizisten Heinrich Mann um den darin wirksamen Stendhal-Bezug.12
3. Vergleich zweier Heuchlerfiguren
Da die Heuchelei die wichtigste motivische Verbindung zwischen den beiden Romanprotagonisten ist, soll sie zunächst in beiden Texten verortet werden. Vergleichend läßt sich bereits festhalten, daß beide ‚Helden’, für die das bürgerlich-humanistische Bildungsideal nicht erfolgversprechend ist, nicht durch Lernprozesse und die Bildung eines moralischen Bewußtseins reüssieren, sondern durch Anpassungsgeist – als Sorel sich nicht mehr anpaßt, scheitert er. Der persönlichen Entfaltung beider Figuren sind, wie der Begriff des ‚umgekehrten’ Bildungsromans indiziert, durch die jeweiligen sozialen Kollektive enge Grenzen gesetzt. Diederich Heßling bewegt sich in der wilhelminischen Gesellschaft der 1890er Jahre, in der mit Militarismus, Nationalismus, Imperialismus und Antisozialismus geherrscht wird, und zwar nach außen (man beachte die Frankreich-Feindlichkeit der repräsentativen Figuren in Der Untertan) und nach innen (der Kampf gegen das Erbe der vor allem vom alten Buck repräsentierten Revolution von 1848). Während Heßling in dieser Gesellschaft „Stufen in die totale Anpassung” (Schneider 2004: 480) durchläuft – worauf noch zurückzukommen sein wird –, gestaltet sich die Lebensgeschichte des Helden Stendhals als ein von Ehrgeiz und heuchlerischem Opportunismus ermöglichter Aufstieg bis in die Herrschaftszentren der französischen Restauration. Darin wurde nach der Revolution von 1789 und der “napoleonischen Episode” (Lovie/Palluel-Guillard 1972) die alte Form der Monarchie wieder eingesetzt, in der die alte, aus der Emigration nach Frankreich zurückgekehrte Adelsschicht in ständiger Angst vor einer neuerlichen Revolution herrschte. Als “image-cliché” (Gleize 1969: 61) der herrschenden Klasse gegenüber ihren politischen Gegnern stellt dies den historischen Hintergrund von Le Rouge et le Noir dar und wird in zentralen Kapiteln des Werks – vor allem in den Darstellungen der aristokratischen Salons der Restauration – als allgemeine Atmosphäre der Angst und Unfreiheit thematisiert.13
3.1. Die hypocrisie Sorels
Bei seinem Aufstieg innerhalb dieser Gesellschaft wird Sorel von Beginn an mit der Heuchelei in Verbindung gebracht. Dem ihn als “chien de lisard” beschimpfenden Vater antwortet der die Napoleon-Biographie lesende statt arbeitende junge Mann “avec un petit air hypocrite” (RN, 65). Kurz darauf wird berichtet, Sorel habe das Neue Testament und das Papstbuch Xavier de Maistres auswendig gelernt, ohne im mindesten daran zu glauben, “et croyait à l’un aussi peu qu’à l’autre” (RN, 67). Beide Referenzen repräsentieren die Herrschaft von Kirche und Monarchie und damit den antirevolutionären Geist der Restauration, den zu teilen Sorel nur vorgibt, um sich aus der väterlichen Umklammerung zu lösen. Bevor er seine Stellung als Hauslehrer bei den Rênals antreten soll, die erste Etappe seiner Karriere, scheint es ihm entsprechend zweckmäßig zu sein, heuchlerisch in der Kirche vorbeizuschauen: “Il jugea qu’il serait utile à son hypocrisie d’aller faire une station à l’église. Ce mot vous surprend? Avant d’arriver à cet horrible mot, l’âme du jeune paysan avait eu bien du chemin à parcourir” (RN, 69). Als ihn der Abbé Chelan bald darauf von der Karriere eines Geistlichen abbringen will, für die er Sorel nicht befähigt hält, denkt sich dieser vorsichtige Worte der Heuchelei aus, die der Erzähler erneut mit einem ironischen Kommentar versieht: “Il ne faut pas trop mal augurer de Julien; il inventait correctement les paroles d’une hypocrisie cauteleuse et prudente. Ce n’est pas mal à son âge.” (RN, 98)
Sorels Liebesverhältnis zu Mme de Rênal in der Provinzstadt Verrières wird dann charakterisiert als eine von seiner ‘Gewohnheit’ der Heuchelei (“ses habitudes d’hypocrisie”, RN 153) beeinflußte Liebe, auch wenn diese, wie etwa Matzat (1990) gezeigt hat, eindeutige Züge der romantischen Liebeskonzeption Stendhals trägt. Bereits zu Anfang seines Aufenthalts im Priesterseminar von Besançon – seiner Zwischenstation auf dem Weg von Verrières nach Paris – glaubt er, obwohl sich erste Zweifel am eigenen Aufstiegswillen eingeschlichen haben, es zur meisterlichen Beherrschung der Heuchelei gebracht zu haben (“il [...] se croyait un hypocrite consommé”, RN, 257). Welch herkulische Aufgabe sei es dennoch, stets und überall heucheln zu müssen: “Quelle immense difficulté, ajoutait-il, que cette hypocrisie de chaque minute; c’est à faire pâlir les travaux d’Hercule.” (RN, 262) Die Situation belastet Sorel so stark, daß er beginnt, sich von seiner Heuchelstrategie (“essais d’hypocrisie de gestes”, RN, 269) selbst zu distanzieren. Dennoch dient ihm die Religion weiterhin zu nichts anderem als zur Heuchelei und zum Gelderwerb, wie im Text eindringlich betont wird: “[…]; l’idée de la religion était invinciblement liée dans son esprit à celle d’hypocrisie et d’espoir de gagner de l’argent.” (RN, 366) Dabei wird gleich im Anschluß an diese Passage das literarische Vorbild dieser Geisteshaltung evoziert: Molières Tartuffe.
Die Heuchelei ist für den ‘neuen’ Tartuffe Sorel eine notwendige Bedingung seiner Karriere in der Restaurationsgesellschaft. Dem alten Adel hält er in einem inneren Monolog mit teuflischem Grinsen vor, er habe mehr Geist als dieser und werde, da er die ‘Uniform’ seiner Zeit zu tragen wisse, schon vorankommen: “Eh bien! se dit-il en riant comme Méphistophélès, j’ai plus d’esprit qu’eux; je sais choisir l’uniforme de mon siècle. Et il sentit redoubler son ambition et son attachement à l’habit ecclésiastique” (RN, 439). Die ‘Uniform’, von der hier die Rede ist, ist die ‚Uniform’ des Priesters, da Sorel eine militärische Laufbahn (also die eigentliche Uniform), die unter Napoleon auch einem jungen Mann aus den unteren Schichten offenstand, in der Restaurationszeit versperrt ist. Er ist militaristischen Geistes wie Heßling14 und achtet wie dieser den militärischen Heroismus, den er in seinem Vorbild Napoleon verkörpert sieht:
Depuis bien des années, Julien ne passait peut-être pas une heure de sa vie, sans se dire que Bonaparte, lieutenant obscur et sans fortune, s’était fait le maître du monde avec son épée. Cette idée le consolait de ses malheurs qu’il croyait grands, et redoublait sa joie quand il en avait. (RN, 71)
Jedoch bleibt Sorel angesichts der wieder eingeführten Privilegiengesellschaft nichts anderes übrig, als seine Ambition gesellschaftlichen Aufstiegs (und seine napoleonischen Überzeugungen) im Habitus des Heuchlers und in der ‚Uniform’ des Priesters zu verbergen. Die Heuchelei ist die einzige dem aus einfachen Verhältnissen kommenden Helden zustehende Waffe, wie dieser selbst anmerkt: “Hélas! c’est ma seule arme! à une autre époque, se disait-il, c’est par des actions parlantes, en face de l’ennemi, que j’aurai gagné mon pain.” (RN, 257)
Bürger hat in seiner Interpretation der hypocrisie in Le Rouge et le Noir solche Aussagen festgehalten und darauf bestanden, daß Sorels Heuchelei nicht als allgemein menschliches Elend – als das Hugo Friedrich sie betrachtet hatte (Friedrich 1980: 43-44) –, sondern als kommunikativ verzerrte Beziehung zum anderen und als „Anzeichen einer bestimmten historischen Situation”, eben der des nachrevolutionären Frankreich, gedeutet werden sollte (Bürger 1977: 146).15 Der Bedarf an Heuchelei in zwischenmenschlichen Situationen, auf die sich die literarische Gesellschaftsdarstellung bei Stendhal verlagert, äußert sich im Kontext der Restauration, deren Zwänge dem Ehrgeiz und dem Talent des Helden Grenzen setzen und den Bedarf an Heuchelei überhaupt erst hervorrufen. Sorel weiß sehr wohl, daß gerade die großbürgerlichen und adligen Kreise der Restauration, in die er sich in Paris Eintritt verschafft, ihn doch nicht zu sich rechnen werden – ein Wissen, das ihn zu der bitteren Einsicht führt, daß Heuchelei und Armut zwei Seiten derselben Medaille sind:
Voilà l’immense avantage qu’ils ont sur nous, se dit Julien, resté seul au jardin. L’histoire de leurs aïeux les élève au-dessus des sentiments vulgaires, et ils n’ont pas toujours à songer à leur subsistance! Quelle misère! ajoutait-il avec amertume, je suis indigne de raisonner sur ces grands intérêts. Je les vois mal sans doute. Ma vie n’est qu’une suite d’hypocrisies, parce que je n’ai pas mille francs de rente pour acheter du pain (RN, 415).
Auch Heßling, dessen Antrieb zur Selbstbehauptung mit den „Spannungen im raschen Übergang von der Stände- zur Klassengesellschaft” gedeutet wurde (Alter 1995: 34), kann seine Herkunft aus dem Bürgertum bei seinem Aufstieg in der vom preußischen Adel dominierten wilhelminischen Gesellschaft nicht unsichtbar machen.
3.2. Die Heuchelei Heßlings
Schon der junge Heßling entdeckt die Notwendigkeit der Heuchelei, um sich im Kollektiv der Schülerschaft Anerkennung zu verschaffen. „Um von den Mächten, die er so sehr verehrte, nicht ganz erdrückt zu werden, mußte Diederich leise und listig zu Werke gehen” (U, 15), heißt es bereits am Anfang des Romans, der die Heuchelei als eine bewußt gewählte Strategie des jungen Heßling einführt. Die darauf folgenden Etappen seiner Karriere sind eng mit dem Motiv der Heuchelei verbunden. Göppel, dem freisinnigen Gegner Bismarcks, wird in politischen Diskussionen von Heßling ‘alles bestätigt’ (U, 18), um dessen Tochter Agnes zu imponieren. Daran schließt sich etwa die verlogene Angeberei über die eigentlich unehrenhafte Entlassung Heßlings aus dem Militärdienst an. „Wer von Euch noch nicht dabei war, hat keine Ahnung”, berichtet er der Familie: „Ich sage euch, da sieht man die Welt von einem andern Standpunkt. Ich wäre überhaupt dageblieben, meine Vorgesetzten rieten es mir ab” (U, 55). Bereits geprägt von den Werten der Burschenschaft Neuteutonia, in die er in seiner Studienzeit in Berlin eintritt, entdeckt Heßling dann die Wirkung der ‘Macht’, deren Ursprung und Referenz der Kaiser ist. Sein Wille nach Überwindung kleinbürgerlicher Selbstbescheidung folgt von da an dem Kaiser, den er nachahmt – vom Kaiser-Schnurrbart, den er sich frisieren läßt, bis hin zur bekannten Übernahme von Kaiserzitaten in der eigenen Figurenrede: „[…] diejenigen jedoch, welche sich mir bei dieser Arbeit entgegenstellen, zerschmettere ich” (U, 106), „[s]achlich sein heißt deutsch sein!” (U, 231) usw.
Allerdings lebt Heßlings zu Anfang des Romans angesprochene ‘Weichheit’, die seine Figur mit der Sorels ebenso motivisch verbindet wie sein mediokrer, den Sohn schlagender Vater,16 residual in seiner Heucheltechnik weiter: Für den Militärdienst ist er körperlich nicht geeignet; von Angesicht zu Angesicht mit dem Kaiser landet er unter dem Lachen des Monarchen „in einem Tümpel, die Beine in der Luft, umspritzt von Schmutzwasser” (U, 64); beim Arzt Heuteufel klappt er wegen schwerer Halsschmerzen zusammen und leugnet doch gegenüber Staatsanwalt Jadassohn, sich von diesem Freigeist, dem es an ‚korrekter’ Gesinnung fehle, behandeln zu lassen (U, 167). Solche Charakteristiken der Heßlingschen Weichheit nehmen im Romanverlauf ab; übrig bleibt seine Heuchelei. Kienast, an dem er ein geschäftliches Interesse hat, gaukelt er eine heile ‚deutsche’ Familienidylle vor, so daß er ihn mit seiner Schwester verheiraten kann (U, 197); im Lauer-Prozeß, in dem er als Hauptbelastungszeuge für die Anklage wegen Majestätsbeleidigung auftritt, gibt er erst einen Irrtum vor (U, 213), steht dann feige nicht zu seiner ursprünglichen Aussage (U, 215) und setzt erst durch die Präsenz des Regierungspräsidenten und Junkers Wulckow gegen den geäußerten Vorwurf des Denunziantentums geschützt, zum heuchlerisch großspurigen kaisertreuen Plädoyer an: „Der uneigennützige Idealismus, meine Herren Richter, ist ein Vorrecht des Deutschen, er wird ihn unentwegt bestätigen, mag ihm angesichts der Menge der Feinde gelegentlich auch der Mut sinken” (U, 230). Sein Plädoyer vor Gericht besiegelt seine Anerkennung in den guten Kreisen Netzigs. Hatte er zuvor mit den Netziger „Idioten” des nationalen Kurses Sekt getrunken, was eine „glänzende Kapitalsanlage” gewesen sei, wie er gegenüber der Familie behauptet (U, 162), wobei seine beim Gelage geäußerten politischen Überzeugungen im übrigen als Form der Verstellung erscheinen, ist der Weg zum Stadtverordneten der nationalen Partei von nun an geebnet. Er verkehrt fortan beim Regierungspräsidenten.
Auch wenn es so scheint, als habe Heßling die Form der gesellschaftlichen Anerkennung erreicht, die Sorel in Le Rouge et le Noir letztlich durch das Scheitern der Heiratspläne mit Mathilde de la Mole verwehrt bleibt, läßt sich die zitierte Erkenntnis Sorels, daß die Heuchelei ein letztlich unzureichendes Mittel ist, seine strukturelle soziale Benachteiligung zu kompensieren, auch auf die Erfahrungen Heßlings in Netzig ausweiten, besonders auf jene, die er als Vertreter des ‚neuen Geistes’ (U, 162) mit dem Netziger Junkertum macht. Die adeligen Kreise, die Militär und Justiz kontrollieren, koalieren mit Heßling, bedienen sich seiner und unterstützen ihn – der Zugang zu ihren Herrschaftsbereichen bleibt ihm aber trotz allem verschlossen. War zuvor schon sein Duellwunsch als Neuteutone in der Berliner Zeit mit der Bloßstellung durch den Adeligen geendet, von dem er Satisfaktion gefordert hatte (U, 41-42), wird er auch von Wulckow, dem Vertreter des Junkertums und der Staatsgewalt in Netzig, geringschätzig behandelt, was ihn zu einem heimlichen Wutausbruch gegen den aristokratischen Standesdünkel des Regierungspräsidenten reizt:
‚Wer bin ich, daß ich mir das bieten lassen muß? […] Diese Kommißköpfe und adeligen Puten […]. Menschenschinder! Säbelraßler! Hochnäsiges Pack!… Wenn wir mal Schluß machen mit der ganzen Bande –!’ Die Fäuste ballten sich ihm von selbst, in einem Anfall stummer Raserei sah er alles niedergeworfen, zerstoben: die Herren des Staates, Heer, Beamtentum, alle Machtverbände und sie selbst, die Macht! Die Macht, die über uns hingeht und deren Hufe wir küssen! (U, 330-331).
Insofern veranschaulicht auch die weiter oben zitierte Aussage des Zeugen Heßling im Lauer-Prozeß nicht nur dessen gewieftes Spiel mit der Macht, sie stellt auch unter Beweis, daß Heßling immer Untertan bleibt – ein Untertan, der von der Macht des Adeligen Wulckow auf die gleiche Weise zu profitieren sucht wie zuvor von der des Linksliberalen Göppel oder des alten Buck („Ich bin selbstverständlich durchaus liberal”, U, 115) und später auch der des Sozialdemokraten Napoleon Fischer. Wie der von Sorel, beruht auch sein Opportunismus darauf, daß er lernt „that true success is dictated by appearence of compliance with the law and simultaneous attention to personal interest, a combination that results inevitably in contradictory behavior, that is, in lying, swindling, and above all hypocrisy” (Grollman 2002: 85). Sicherlich ist die für Heinrich Mann typische Entgegensetzung von Geist und Macht einer der Pfeiler der Romankonstruktion (Schröter 1989; Emrich 1981), und ebenso zweifelsfrei assimiliert Heßling in seiner Staatsnähe das herrschende Ethos der Macht – „Macht geht vor Recht!”, behauptet er beispielsweise gegenüber Wolfgang Buck (U, 319) –, doch ist die ‚Macht’ in Heßling gar nicht wirklich verkörpert: Er küßt ihr, wie er im o.g. Zitat selbst anmerkt, nur die Hufe.
Kurt Tucholsky hat in seiner Rezension von Der Untertan wie viele andere nach ihm angemerkt, Wilhelm II. werde durchgängig als „Inkarnation des deutschen Machtgedankens, […]” (1919: 318) geschildert. Der Rausch, den Heßling beim Anblick des Kaisers in Der Untertan in Berlin erlebte (U, 63-64), hatte zu Beginn des Romans auch tatsächlich zu jenem Ausruf geführt, der den weiteren Handlungsverlauf anzeigte: „Ihm nach! Dem Kaiser nach!” (U, 64) Heßlings Karriere bleibt allerdings in Netzig wie schon in Berlin ein Weg der „affiliation with power” (Grollman 2002: 85). Darin genau verweist sie auf die Laufbahn Sorels: In den deutlich profilierten Szenen der Diskrepanz zwischen rhetorischem Schein und gesellschaftlichem Sein wird offenbar, daß beide Protagonisten die Regeln des gesellschaftlichen Spiels, denen sie sich, um gesellschaftlich aufzusteigen, durch diverse Heucheltechniken anpassen müssen, nicht diktieren, ja nicht einmal beeinflussen können. Tatsächlich bietet erst das tragische Ende Sorels in Le Rouge et le Noir Anlaß dazu, seine Figur deutlich von der Heßlings zu unterscheiden.17
3.3. Assoziation und Dissoziation der Heuchlerfiguren: Musikrezeption, Bildungideal und Gerichtsszenen
Ein verbindendes Element zwischen beiden Protagonisten ist die Verehrung für ‚ihre’ Kaiser, nach deren Größe und Ruhm sie streben, was auch vom Erzähler von Le Rouge et le Noir durchaus ironisch thematisiert wird. Als Teil der Ehrengarde beim Besuch des neapolitanischen Königs in Verrières, verhindert Sorel im letzten Moment, vom Pferd zu fallen, woraufhin er sich stolz als Soldat Napoleons fühlt, der einen Schießbefehl erteilt: “[...] de ce moment il se sentit un héros. Il était officier d’ordonnance de Napoléon et chargeait une batterie.” (RN, 165) Bei Mathilde in Paris erweckt er später den Eindruck, Napoleon mimen zu wollen, so wie ihr Vater auf dem Tanzball: “Ce Sorel a quelque chose de l’air que prend mon père quand il fait si bien Napoléon au bal.” (RN, 400) Dies ist einer der Gründe dafür, warum sie sich für ihn zu interessieren beginnt. Als Sorel schließlich davon überzeugt ist, daß es ihm mit Hilfe des ‚Schlachtplans’ des Prinzen Korasoff gelingen wird, Mathilde de la Mole zu erobern, vergleicht er sich zufrieden mit einem General, der eine Schlacht zur Hälfte (“à demi”) gewonnen hat – und liest daraufhin zufrieden in den Mémoires de Saint-Hélène Napoleons (RN, 560). Auf das Verhältnis beider Kaiserfiguren zueinander komme ich noch zurück; wie bereits erwähnt, liegt darin, daß sie beiden Protagonisten als vollkommen unkritisch imitierte Vorbilder dienen, eine Parallele zwischen beiden Romanen.
Weitere Parallelen betreffen etwa die ersten Liebesbegegnungen Sorels und Heßlings. In beiden Fällen wird schon bei der ersten Begegnung mit der künftigen Geliebten ihr anmaßender und sexuell ungestümer Charakter deutlich. Sorel küßt frech die Hand von Mme de Rênal, die doch die Ehefrau des Hausherren ist, der ihn gerade erst als Hauslehrer angestellt hat. Heßling wiederum leckt, zum Entsetzen von Agnes, kurz nach ihrer ersten Begegnung einen Blutstropfen von ihrem Finger (U, 20). In beiden Fällen wird die Frau als rein, unerfahren und naiv gekennzeichnet und der Mann als schwankend zwischen Begehren und Berechnung. Um weiter aufzusteigen, geben jedoch Sorel und Heßling – freilich aus verschiedenen Gründen – diese erste Liebe auf. Für Heßling ist der folgende Verrat an Agnes, wie Banuls (1966: 228) erläutert hat, der Beginn der “hypocrisie sentencieuse”. Im Text ist von „verzweifelte[r] Heuchelei” (U, 95) die Rede. Darunter fällt die heuchlerische Aussage, er könne die Geliebte nicht heiraten, da ihm sein ‚sittliches’ Gefühl eine Ehe mit einer beim Eintritt in die Ehe bereits ‚unreinen’ Frau nicht erlaube.
Für beide Protagonisten, deren Ehrgeiz durch Kollektive wie die Neuteutonia und das Priesterseminar in die Bahnen der Anpassung an autoritäre Gruppenidentitäten kanalisiert wird, nimmt die zweite Liebesbeziehung, die sie eingehen, dann narzißtische Formen an. Sie dient im Rahmen dessen, was Matzat klassisches Paradigma nennt, dazu, „den Gegenspieler zur Anerkennung der eigenen Überlegenheit zu bringen” (1990: 139). Das Werben Heßlings um die eigentlich Wolfgang Buck, dem Rivalen, versprochene Guste Daimchen liefert dafür eine Reihe von Beispielen. Dabei haben beide auf die erste Liebe folgenden Frauenfiguren, Guste Daimchen und Mathilde de la Mole, gemeinsam, daß sie umworbene reiche Erbinnen sind, die sich den Protagonisten für ihren gesellschaftlichen Aufstieg und in ihrem Kampf um Anerkennung als nützlich erweisen – wenngleich dies bei Stendhal unterbrochen wird durch eine katastrophale Wendung der Geschichte, die auch die literarische Transposition der von Stendhal erzählten Aufstiegsgeschichte eines Heuchlers in die Gegenwart der wilhelminischen Gesellschaft in Der Untertan unterbricht bzw. in den Bereich der Parodie lenkt.
Bereits in der Figurendarstellung Guste Daimchens zeigt sich im Vergleich zu Mathilde de la Mole die Technik der parodistischen Umkehrung, mit der auch Heßling schließlich von Sorel dissoziiert wird. Denn so sehr sich die Protagonisten zunächst auch ähneln, so unterschiedlich werden die Figuren der beiden Frauen charakterisiert. Besonders deutlich wird dies anläßlich ihrer Opernbesuche, denen in beiden Romanen eine wichtige Bedeutung für Handlungsverlauf und Erzählintention zukommt. Im Hinblick auf Der Untertan wurde er sogar als „ein Mikrokosmos des ganzen Romans” aufgefaßt (Hillman 1981: 125). Heßling begrüßt in der „Lohengrin”-Episode in Der Untertan den König unter der Eiche “vom nationalen Standpunkt” aus (U, 347). Er hält Lohengrin für „die allerhöchste Macht” (U, 349) und reckt, sooft das Wort ‚deutsch’ fällt, die Hand herauf (U, 347). Auch Guste erweist sich als schlichte, geistesarme Musikrezipientin. Sie stopft beim Opernbesuch Pralinés in sich hinein und kommentiert süffisant den Schlafrock und das Frontkorsett der Ortrud. Heinrich Mann hielt das musikalische Ausdrucksvermögen Wagners für „vergiftete Gefühle und einen verfälschten Geist”, wie er etwa in Kaiserreich und Republik darlegte (H. Mann 2005: 192). Die Opernszene in Der Untertan ironisiert also in den Epochen-Typen der beiden textinternen Rezipienten die vorwiegend schwärmerische Wagner-Rezeption der Bourgeoisie im Wilhelminismus allgemein.18
Die Opernepisode in Le Rouge et le Noir wiederum ist ebenfalls von erheblicher Bedeutung für die Romankonstruktion, mit dem Unterschied allerdings, daß darin im positiven Sinn die wesentlichen Aspekte der Stendhalschen Musikauffassung deutlich gemacht werden, die Mathilde repräsentiert. Für Stendhal hatte Musik nicht die Aufgabe, den Regeln klassischer Formgebung zu entsprechen, sondern emotionale Wirkungen hervorzurufen und den Zuhörern ihre Gefühle bewußt zu machen (Jacobs 1994; Ley 1995; Lemke 2007). Entsprechend dieses rezeptionsästhetischen Ansatzes wird sich Mathilde bei der Aufführung Domenico Cimarosas’ „Il Matrimonio Segreto” – bekanntermaßen eine der Lieblingsopern Stendhals – ihrer Gefühle für Julien bewußt, wobei die Kantilene, die sie vernimmt („Devo punirmi, devo punirmi, / Se troppo amai”), auf ihre eigene Situation mit Sorel anspielt (“lui semblait faire une application si frappante à sa position”, RN, 478). In beiden Romanen spiegelt die Musik in den jeweiligen Opernepisoden also die Geistesverfassung ihrer innertextuellen Rezipienten. Doch während Lohengrin auf Gustes und Diederichs Kleingeistigkeit verweist („‚Das ist die Kunst, die wir brauchen!’ rief Diederich aus. ‚Das ist deutsche Kunst!’”; U, 353), erlebt Mathilde die opéra bouffe als ästhetisches Kunstwerk im Rahmen der Musikauffassung, die Stendhal beispielsweise in der Vie de Rossini enthusiastisch vertrat. Im Vergleich der beiden Opernszenen deutet sich dabei das Verfahren parodistischer Umkehrung an, das neben der Imitation das zweite Merkmal des Stendhal-Bezugs in Der Untertan ist, denn die Parodie wird als Verfahren der ‚diminuierenden’ Umwertung in der Wiederaufnahme – von Mathilde zu Guste, von Julien zu Diederich, in gewisser Weise auch von Cimarosa zu Wagner – noch in weiteren Episoden in Der Untertan praktiziert.
Von Interesse ist in diesem Kontext das Bildungsideal beider Protagonisten. Als Heßling in Berlin beschließt, sich gegen die Umgarnung Agnes’ und ihres Vaters zur Wehr zu setzen, und er seine „männliche Selbständigkeit” durch “Kälte” (U, 85) demonstriert, berichtet er Agnes’ Vater, der ihm die „idealen Werte des Lebens” zu bedenken gibt, von einem Schritt, der sich als entscheidend für seine weitere Entwicklung herausstellen wird: „Noch gestern hab ich meinen Schiller verkauft. Denn ich habe keinen Sparren und lasse mir nichts vormachen.” (U, 86) Angesprochen sind damit Heßlings Aufgabe des bürgerlichen Bildungsideals und seine Konversion zur ‚dunklen’, dem ‚Geist’ abgewendeten Seite der Macht. Die Szene nimmt seinen Verrat an Agnes vorweg und besiegelt die Wende zum kollektiv gesinnten Untertanen, an die er später im Roman in einem Gespräch mit dem alten Buck erinnert: „Das deutsche Volk ist eben, Gott sei Dank, nicht mehr das Volk der Denker und Dichter, es strebt modernen und praktischen Zielen zu.” (U, 119) Der Verkauf der Werke Schillers entscheidet über sein Herden-Selbstverständnis, das er in der Folge wiederholt zur Sprache bringt: „Die Macht, die über uns hingeht, die wir im Blut haben, die uns unterwirft, ein Atom sind wir von ihr.” (U, 331)19 Nun war es Heßlings Charakterzug der ‘den’ Geist ablehnenden Machthörigkeit, den Heinrich Mann von den ersten Skizzen zum Untertan an in der Figur Heßlings zeigen wollte.20 Insofern ist es durchaus von Belang, daß Heßlings Laufbahn im Intertext zu Le Rouge et le Noir in einem umgekehrten Verhältnis zum Bildungsweg Julien Sorels steht. Denn sicherlich rezitiert Sorel mit dem Neuen Testament und dem Papstbuch des anti-revolutionären Xavier de Maistre opportune Referenzen. Doch bleibt er als Leser, anders als Heßling, der ersten Bestimmung seiner Bildung treu, die er in Form des Mémorial de Sainte-Hélène Napoleons vom Beginn des Romans an heimlich mit sich von Ort zu Ort führt – auf die ständige Gefahr hin, wie andere Figuren im Roman als Napoleonanhänger entlarvt und diskriminiert zu werden.21
Von ähnlichem Interesse sind auch die Gerichtsszenen in beiden Romanen, in der beide Helden in Anklage- und Verteidigungsrede historisch kontextualisiert und gesellschaftlich positioniert werden. Die Episode des Lauer-Prozesses in Der Untertan hat jedoch wiederum die Funktion, Heßling nicht spiegelbildlich, sondern antithetisch zu Sorel zu bestimmen, und den Stendhal-Bezug damit als historische Vergleichsfolie zu gestalten, mit Hilfe derer die Fehler, Mängel des Typen Heßling parodiert werden. Dabei werden sowohl in Der Untertan als auch in der Szene des Prozesses, der Sorel in Le Rouge et le Noir aufgrund seines Mordversuchs an Madame de Rênal gemacht wird, die bestehenden Rechtsordnungen qua Figurenrede als Formen des Klassenrechts entlarvt. Heßling als Zeuge der Anklage wettert bei dieser Gelegenheit, von Wulckow angestachelt, gegen die „spießbürgerliche Demokratie und Humanität, die den vaterlandslosen Feinden der göttlichen Weltordnung den Weg ebneten”; er betont das „erhabene Wollen” des Kaisers, fordert die „nationale Gesinnung” und einen „großzügigen Imperialismus” (U, 231). Sorel dagegen trägt während seines Prozesses Bedenken gegenüber der Rechtsordnung vor, ja klagt sie geradezu an, worauf man ihn zum Tode verurteilen wird. Er erhebt sich in seinem Plädoyer in eigener Sache nicht nur gegen das Klassenrecht, indem er sich als Vertreter der durch Armut benachteiligten Klasse junger Menschen von niederer sozialer Herkunft präsentiert:
[…] je vois des hommes qui, sans s’arrêter à ce que ma jeunesse peut mériter de pitié, voudront me punir en moi et décourager à jamais cette classe de jeunes gens qui, nés dans un ordre inférieur, et en quelque sorte opprimés par la pauvreté, ont le bonheur de se procurer une bonne éducation, et l’audace de se mêler à ce que l’orgueil des gens riches appelle la société (RN, 629-630).
Die Gerichtsepisode in Le Rouge et le Noir markiert auch den Moment in der Erzählung, in dem sich Sorel rhetorisch von der eigenen Heuchelei, deren Regeln er bis dahin (und vielleicht auch noch darüber hinaus, das bleibt durchaus offen) befolgt hatte, im Namen der Wahrheit ausdrücklich distanziert:
J’ai aimé la vérité… Où est-elle?… Partout hypocrisie, ou du moins charlatanisme, même chez les plus vertueux, même chez les plus grands; et ses lèvres prirent l’expression du dégoût… Non, l’homme ne peut pas se fier à l’homme… (RN, 650)
Die Gerichtsepisode erlaubt die Dissoziation der beiden literarischen Heuchlerfiguren auch insofern, als dass ihr weiteres Schicksal eine unterschiedliche Richtung nimmt. Der Protagonist von Der Untertan schreitet den Weg des heuchlerischen, militaristischen, geistlosen und imperialistischen sujet voran, der das Kaiserreich, dem Essayisten Heinrich Mann in einer retrospektiven Sinngebung des Romans zufolge, in den Ersten Weltkrieg führte: „Der Krieg kam durch den Untertan.” (H. Mann 2005: 194) Der vor Gericht jakobinisch argumentierende Napoleonanhänger Sorel dagegen scheitert, und zwar nicht an den staatstragenden Vertretern des Großbürgertums und des Hochadels, die ihn – wie Mathilde – vielmehr vor der Hinrichtung zu retten versuchen,22 sondern an der neuen Elite, dem kapitalistischen Bürgertum, das in historischer Perspektive die Stütze der auf die Julirevolution 1830 folgenden Gesellschaft der Julimonarchie sein wird: “[il] n’est pas tant la victime des ultras que des bourgeois enrichis et jaloux qui vont triompher en juillet” (Girard 1961: 152). Der Text kommt ausdrücklich auf den Triumph der sozial privilegierten Heuchler um Valenod, den Industriellen und Provinzbürger, zu sprechen: “[…] quel triomphe pour les Valenod et pour tous les plats hypocrites qui règnent à Verrières! Ils sont bien grands en France, ils réunissent tous les avantages sociaux.” (RN, 647)
In der Zusammenschau beider Romane ist aufschlußreich, daß Heßling in der Gerichtsszene von Der Untertan mit Zügen von Sorels Häschern ausgestattet ist, während der Verteidiger Lauers, Wolfgang Buck, bei dieser Gelegenheit ähnliche Bedenken vorträgt wie Sorel. Heßling vertrete „Klasseninteressen” „umgelogen durch Romantik” (U, 237), und zwar “für einen Begriff wie den der Majestät, den doch kein Mensch mehr, außer in Märchenbüchern, ernsthaft erlebt” (U, 238). Wolfgang Buck spricht davon, daß unter Wilhelm II. das „öffentliche Leben einen Anstrich schlechten Komödiantentums” (U, 237-238) erhalten habe.23 In Der Untertan wird die literarische Vorlage daher erneut parodistisch umgekehrt, ja doppelt durchkreuzt: Die republikanischen Aussagen, wie Sorel sie vorträgt, werden im Untertan von Wolfgang Buck gegen Heßling formuliert, während sich Heßling selbst auf die Seite der Valenods schlägt, die in Le Rouge et le Noir für Sorels Hinrichtung verantwortlich gemacht werden. Man könnte daraus schließen, daß der Stendhalsche Hypotext mit der Geschichte Heßlings in Der Untertan, willkürlich oder nicht, von seinem Ende her fortgeschrieben wird. Es wird die Metamorphose des citoyen Sorel in den Untertanen Heßling vorgeführt, wofür sich, zumindest der Grundintuition nach, schon in den frühen Romanskizzen Heinrich Manns Hinweise finden: “Bald giebt es keine Staatsbürger mehr; nur Unterthanen; […].” (H. Mann 2004: 547) Auf diese Weise erweist sich der Stendhal-Bezug als bedeutsam für das wohl wichtigste narrative Element in Der Untertan: die Figurenkonstruktion Heßlings als kaisertreuer Untertan. Als Gegenbild zu Sorel konzipiert, schmettert dieser seinem sozialdemokratischen Angestellten Napoleon Fischer vielleicht nicht zufällig entgegen: “Napoleon! So ein Name ist allein schon eine Provokation. Aber er soll sich zusammennehmen, denn so viel weiß ich, daß einer von uns beiden [...] auf dem Platz bleiben wird.” (U, 114). Nerlich (1999: 92-94) hat in seiner Interpretation des Romanendes von Le Rouge et le Noir gezeigt, daß Sorels Hinrichtung als ein mythisches Opferspiel gestaltet wird, in der der Körper des Helden für die ferne Zeit der möglichen Wiederauferstehung sozialer Gerechtigkeit quasi entrückt wird. In Der Untertan erfolgt seine Wiederkehr nur in seiner Karikatur Heßling, und Sorels Ruf nach sozialer Gerechtigkeit wird von Heßlings Widersacher vertreten.
4. Provokation Stendhal: Ausblick
Heinrich Mann hat in seinem bereits erwähnten und 1931 publizierten Stendhal-Essay einige der zuvor evozierten Punkte so deutlich angesprochen, daß verwundert, wie wenig Aufmerksamkeit dem Stendhal-Bezug in der Forschung entgegengebracht wurde. Er hat dabei, etwa wenn er Parallelen zog zwischen dem jungen Stendhal und dessen Altersgenossen 120 Jahre später, die Provokation angenommen, die der Stendhal-Bezug für ihn darstellte:
Er [= Stendhal – F.E.] hat den Haß auf die Alten gepflegt. Es kam ihm nicht darauf an, wie man reich wird. Er nahm die Zeit und ihre Bedingungen sachlich. Geld verdienen und Krieg führen, erkannte er als das natürliche Gesetz der Revolution in ihrer imperialistischen Hälfte. Er hatte das Bedürfnis, sich in heftiger Bewegung zu erhalten und einem selbstgewählten Führer widerstandslos zu gehorchen. Es sieht aus, als wären dies Ähnlichkeiten genug. Der Unterschied dagegen liegt vor allem in der Produktivität – des Zeitalters, seines Helden und Stendhals, in dem sie noch schlief. (H. Mann 1997: 31)
Diese Passage von 1931 wirkt wie ein auktorialer Metakommentar auf Der Untertan und erlaubt, den Zusammenhang zwischen Heinrich Manns publizistischem Rückblick auf das Zeitalter Stendhals und seinem literarischen Diskurs des wilhelminischen Zeitalters zum Abschluß noch einmal in den Worten des Autors zu fassen. Die Ähnlichkeiten zwischen Le Rouge et le Noir und Der Untertan sind im ersten Teil des Abschnitts indirekt angesprochen und betreffen die Ähnlichkeiten im gesellschaftlichen Kontext der Romane: das Streben nach materiellem Reichtum („Geld”), das sachliche Verhältnis zur Wirklichkeit und der Militarismus. Diese Eigenschaften verbinden Stendhal mit seinem Helden, und sie hallen in Heßling nach. Heinrich Mann erkannte in den im zweiten Teil der Passage evozierten Elementen (Zeitalter=Empire, Held=Napoleon, Autor=Stendhal) eine sie verbindende „Produktivität”, die seinem eigenen Zeitalter, seinen eigenen Zeitgenossen und auch seiner Figur fehlte. Hier steht ‚Frankreich’ für ein Gegenbild zu ‘Deutschland’, was im Stendhal-Essay zu dem bereits zitierten Hinweis führt, der „Lebenskämpfer Julien” sei “seither in so vielen Gestalten späterer Romane und Stücke aufgetreten”, allerdings „ohne Napoleon, kein so mächtiger Schatten erhebt sich hinter ihnen, und niemand denkt mehr daran, was in Augenblicken, die den Kraftverbrauch wirklich wert waren, aus ihnen hätte werden können. Stendhal wußte es, da er unter Napoleon gedient hatte.” (H. Mann 1997: 45) Diese Aussagen erlauben es, die Parallelisierung Sorels und Heßling in Der Untertan auf die Parallelisierung zweier Zeitalter, deren typische Repräsentanten sie sind, zu erweitern. Hat Sorel den ‚mächtigen Schatten’ Napoleons hinter sich, steht hinter Heßling Wilhelm II., der 1919 in Kaiserreich und Republik, also in einem Text, der im Verhältnis zu Der Untertan erläuternden Charakters ist, als „Bühnenlarve” bezeichnet wurde (H. Mann 2005: 188).
Dabei ist daran zu denken, daß Wolfgang Buck in der oben zitierten Gerichtsszene nicht nur vor dem Komödiantentum warnt, sondern auch vor dem (falsch verstandenen) „Beispiel eines großen Mannes” (U, 239-240). Dies spielt zum einen auf den für Le Rouge et le Noir charakteristischen Mythos des “grand homme” an (z.B. RN, 269), den außergewöhnlichen Energiemenschen, der sich über seine Zeit erhebt und der für Sorel mit seinem ‚Schatten’ Napoleon identisch ist. Es indiziert aber auch, daß Wilhelm II., zumindest in den Augen des politischen Publizisten Heinrich Mann, Napoleon auf die falsche Weise imitierte. Entsprechend findet sich die Warnung Wolfgang Bucks in Ein Zeitalter wird besichtigt in großer Eindeutigkeit wieder: „Ich halte dafür, daß die deutschen Abenteuer von Beginn bis Schluß, sei es wenig oder kaum bewußt, Napoleon nachahmen” (H. Mann 2001: 19).
Damit in Verbindung steht die für Heinrich Mann typische Einklammerung der deutschen Geschichte – von der nationalen Einheit bis zum Nationalsozialismus – in negative, quasi geschichtsphilosophische Vorzeichen (Schröter 1971: 131). In Ein Zeitalter wird besichtigt wird diese Geschichte als ‚Strafe’ Napoleons gedeutet: „Der deutsche Sieg über Napoleon, insoweit er deutsch war, trug in sich seine Strafe” (H. Mann 2001: 27-28).24 Dies wirkt im Lichte des Vorangegangenen als weitere Bestätigung eines bereits in Der Untertan fixierten Denkbildes. Schon der alte Buck artikuliert als Vertreter der Revolutionäre von 1848 in einem Gespräch mit seinem Sohn, dem Heßling versteckt beiwohnt, das Ergebnis dieser ‘Strafe’: „Sie sind sehr mächtig geworden; aber durch ihre Macht ist in die Welt weder mehr Geist noch mehr Güte gekommen. Also war es umsonst. Auch wir waren scheinbar umsonst da” (U, 455-456). Mit der Vertreibung des Geistes aus Deutschland begann schon für den Heinrich Mann des Essays Geist und Tat (1910) jener deutsche Sonderweg, der am Ende des 19. Jahrhunderts mit der industriellen Revolution ohne gesellschaftliche Modernisierung manifest wurde.25 Das Volk brauche Geist, müsse „Ratio militans” selbst sein, heißt es darin, doch während die Franzosen den Geist als „das Leben selbst” begriffen, gelte er in Deutschland nur als „luftiges Gespenst” (H. Mann 2005: 12-14).
Vor diesem Hintergrund wird offensichtlich, wie sehr die von Heinrich Mann kontinuierlich publizistisch artikulierte Denkfigur einer Entgegensetzung von nachrevolutionärem Frankreich und wilhelminischem Deutschland in nuce auch in Der Untertan angelegt ist. Die intertextuelle reprise der Figur Sorels in der Konstruktion der Figur Heßling wird im Verlauf der Romanhandlung zur Parodie umfunktionalisiert. Während sich der Machtmensch Sorel am Ende von Le Rouge et le Noir zum ‚Geist’ bekennt, auch wenn er, wie es im Stendhal-Essay heißt, „sein ganzes junges Erdenleben unter Heucheln [sic!] verbringen” mußte (H. Mann 1997: 43), bleibt der Heuchler Heßling Machtmensch ohne Geist, Repräsentant des deutschen Sonderwegs: imperialistischer Untertan. Der Unterschied zwischen beiden liegt in ihrem gegensätzlichen Verhältnis zum Erbe der Französischen Revolution, für Heinrich Mann das geistige Prinzip der europäischen Geschichte,26 gegen das sich Heßling, Wilhelm II. und das gesamte deutsche Reich in den Augen des Autors zur Wehr setzen, zu dem sich Sorel dagegen, gerade weil er seinem Vorbild Napoleon letztlich treu bleibt (vgl. H. Mann 1997: 32), in ein – freilich uneindeutiges – Verhältnis der Kontinuität stellt.
Auch wenn in Der Untertan explizite intertextuelle Referenzen auf Le Rouge et le Noir fehlen, können, abschließend formuliert, Virulenz und Tragweite einer Stendhalschen Lektüre des Romans gezeigt werden. Heinrich Mann hat in einem kontinuierlichen analogisierenden Cross-Mapping, in der kulturellen Umschrift der Stendhalschen Referenz, deren kulturelle ‚Energien’ genutzt und Denkfiguren übereinandergelagert oder kartographiert (vgl. Bronfen 2002: 110-111)27. Zentrale Momente von Der Untertan können in dieser umwertenden Tradierung des literarischen Vorbilds verstanden werden. Sie sind, ganz im Sinne des Essayisten Heinrich Mann, ein Beispiel für das ‚Überleben’ des Stendhalschen Hypotextes, das Weiterleben des „immer Zeitgemäße[n]” Stendhal (H. Mann 1997: 116).28 Insofern ist Heinrich Manns Zeitroman in der Forschung auf eine dokumentarische Abbildästhetik verpflichtet worden, die ihm fremd ist. In Vergessenheit geriet – z.T. bis heute29 – die komplexe Romanpoetik des Textes, dessen Polyglossie, da sie nicht nur soziale Redevielfalt paraphrasiert, sondern auch ein großes literarisches Assoziationsspektrum bereithält, noch weiter ins Zentrum des kritischen Interesses gerückt werden sollte.
U: Der Untertan. Mann, Heinrich (12. Aufl. 2004). Der Untertan. Roman. Hg. von Peter-Paul Schneider, Frankfurt am Main: Fischer TB.
RN: Le Rouge et le Noir. Stendhal (2000). Le Rouge et le Noir. Éd. par Anne-Marie Meininger, Paris: Gallimard.