Wilhelminische Doppelmoral und Moral in Heinrich Manns Roman Der Untertan

DOI : 10.58335/individuetnation.142

Moral und wihelminische Doppelmoral stehen im Mittelpunkt des Artikels. Heinrich Mann zeigt den aus Schwäche geborenen autoritären Charakter, der in Form des Untertans im Zeitalter des Wilhelminismus den liberalen Citoyen durch den sozialdarwinistischen Bourgeois ersetzt. Das Auseinanderklaffen von Ideal und Wirklichkeit, von Moral und Doppelmoral, macht den moralistischen Schriftsteller zum Satiriker und den Satiriker zum Moralisten.

C’est la question de la morale et de la double morale, l’hypocrisie de la société « Wilhelminienne », qui se trouve au centre de l’article. Pour Heinrich Mann, toute écriture doit avoir un fond éthique et morale, c’est sa définition de l’engagement littéraire. Dans son approche anthropologique, Heinrich Mann confronte les comportements social-darwinistes du sujet Diederich Hessling à l’idéal perdu d’une vie responsable. Le libéralisme citoyen de ’48 cède la place au libéralisme bourgeois sauvage. Cette opposition est à la base de l’écriture satirique de Heinrich Mann.

The question of morality, double standards and hypocrisy in Wilhelmine society is at the centre of this article. For Heinrich Mann, all writing must have an ethical and moral base, it is his definition of literary commitment. In his anthropological approach, Heinrich Mann confronts the social Darwinist behaviour of his subject Diedrich Hessling on the lost ideal of a responsible life. The citizen liberalism of ’48 gives way to cruel bourgeois liberalism. This opposition is at the base of Heinrich Mann’s satirical writing.

Texte

In seiner 1943/44 entstandenen Autobiographie Ein Zeitalter wird besichtigt stellt Heinrich Mann fest: „Mein eigenes Dasein hängt ganz und gar davon ab, dass sittliche Bemühungen möglich sind.“ (zitiert nach Klaus Schröter, 1967: 153). In einem Werk, in dem er sein Leben Revue passieren lässt, stellt Heinrich Mann, im Exil in Amerika, sein Lebenswerk unter den Grundsatz des Ethischen und Moralischen. Aus heutiger Perspektive hatte Heinrich Mann damit praktisch das Verdikt über sein Gesamtwerk gesprochen, denn in der Literaturtheorie nach 1945 geriet zumindest in der westlichen Hemisphäre alle ethisch-moralische Literatur im Streit zwischen reiner Ästhetik und politischem Engagement zunehmend unter Ideologieverdacht und bis heute wird politisch engagierte Literatur gern als moralisierende Gesinnungsästhetik abgetan.

Heinrich Mann gehört zu den bedeutendsten Vertretern engagierter Literatur deutscher Sprache, zu denen, deren Werke im Nationalsozialismus ganz oben auf der Liste der zu verbrennenden Bücher standen und die aufgrund ihres Engagements 1933 sofort ins Exil mussten. Der moralisch-didaktische Akzent von Heinrich Manns Büchern ist zudem nicht zu leugnen. Klaus Schröter stellt heraus, dass die „Struktur der lehrbaren und lernbaren Moral“ Heinrich Manns Werke in der Zeit der Weimarer Republik bestimmte, er zitiert aus einem Brief an Felix Bertaux in welchem Mann seinem Roman Eugénie oder Die Bürgerzeit leichte Lesbarkeit und eine moralische Lehre attestiert (Schröter 1967 : 108).

In der Sekundärliteratur ist auf den Aspekt häufig hingewiesen worden, André Banuls widmet ein Kapitel seines Buches Heinrich Manns „Romans ‚moraux‘“ (André Banuls 1966 : 303ff.), in seinem Buch zur Forschungslage über Heinrich Mann von 1974 präsentiert Hugo Dittberner sein zentrales erstes Kapitel unter dem Titel „Der artistische Moralist“ (Hugo Dittberner 1974 : 15ff.). Am Schluss des theoretischen Teils seiner dem Untertan gewidmeten Monographie konstatiert Wolfgang Emmerich: „Manns höchste Verantwortung ist, vor der ästhetischen, die moralische“, fügt dann aber hinzu:

Heinrich Mann ist einer von ganz wenigen deutschen Autoren, die die spätestens um die Jahrhundertwende sich vollziehende Dichotomisierung der Literatur in eine aufs Artistische pochende Avantgarde und eine vordergründig politisch engagierte Literatur nicht mitgemacht und an dem Anspruch ihrer Verknüpfung festgehalten haben. (Wolfgang Emmerich 1980 : 87).

Es ist von besonderem Interesse, zu untersuchen, wie die „sittlichen Bemühungen“ und das Bedürfnis nach "moralischer Lehre" in Heinrich Manns Roman Der Untertan zum Tragen kommen, denn dieser Roman liegt chronologisch ziemlich am Anfang von Heinrich Manns zweiter kreativer Phase, in der er sich weg vom eher artistisch orientierten Frühwerk zum engagierten Kritiker der Gesellschaft entwickelt. Es gilt zu untersuchen, wie es ihm in dieser Phase des Übergangs gelang, die ästhetisch-artistische Haltung mit den moralischen Ansprüchen zu vereinbaren. Wolfgang Emmerich zitiert aus einem Brief Heinrich Manns, einem der ersten Belege zur Entstehung des Untertan:

Mein Ehrgeiz wird immer mehr rein geistiger Art: ich möchte Helden hinstellen, wirkliche Helden, also generöse, helle und menschenliebende Menschen, als Gegensatz zu dem menschenfeindlichen, der Reaktion ergebenen Geschlecht von heute. Seit ich in Berlin bin, lebe ich unter dem Druck dieser sklavischen Masse ohne Ideale. (Emmerich 1980 : 41, auch: 85).

Emmerich stellt fest, dass der Impuls zur Niederschrift von Der Untertan „eine Situation des (moralischen) Mangels“, „das Erleben eines moralischen Defizits, die Abwesenheit des ersehnten Ideals war" (Emmerich 1980: 42 und 84f.). Um das "von der Seele (zu) haben“, schreibt Heinrich Mann in demselben Brief, müsse er also zunächst die negativen Beispiele seiner Zeitgenossen darstellen, bevor er zu deren Umkehrung, den positiven Helden, übergehen könne (Emmerich 1980: 41). In Der Untertan werden entsprechend zu den Negativbeispielen auch die damit verbundenen negativen Moralen, die Macht- oder Untertanenmoral zur Darstellung kommen.

Im wohl wichtigsten Buch der Sekundärliteratur zum Thema ‚Moral’ Heinrich Mann. Der Dichter als Moralist behandelt Hanno König diese Ambivalenz von Sklavenmoral und Moralideal eingehend, ohne dabei jedoch auf den Roman vom Untertan genauer einzugehen. Um das Gesamtwerk Heinrich Manns insgesamt behandeln zu können, legt König Querschnitte im frühen, mittleren und späten Werk Heinrich Manns und behandelt exemplarisch die Werke Jagd nach Liebe, Der Kopf und die Henri-Quatre-Romane. „Die Herausbildung des moralistischen Systems aus der Kritik der Wilhelminischen Epoche“ - so der Titel des zweiten Hauptteils von Königs Buch - zeigt König am Beispiel von Der Kopf, des dritten Romans der Mannschen Trilogie, die Heinrich Mann unter dem Titel "Das Kaiserreich. Die Romane der deutschen Gesellschaft im Zeitalter Wilhelms II." zusammengefasst hat. Um Königs Ergebnisse auch für den Untertan fruchtbar zu machen, soll hier der Versuch unternommen werden, die theoretischen Ergebnisse Königs auf den erfolgreichsten Roman von Manns „Wilhelminischer Triologie“ zu übertragen.

Auch König unterstreicht das, was man Heinrich Manns anthropologischen Ansatz nennen könnte, die Einsicht in das moralische Defizit des Menschen. Heinrich Mann weiß, dass die dunklen Triebe, die unterste Stufe im Menschen, immer noch vor der Vernunft und aller Moral da sind und der Mensch in einem ewigen Kampf mit dieser seiner untersten Stufe befangen ist: „Das Vernünftige muss redlich erarbeitet werden, aber das Irrationale hat jeder von selbst“ (Hanno König 1972 : 290), schreibt Heinrich Mann. Das heißt, dass das Moralische immer wieder gegen den natürlichen Egoismus des Menschen, gegen Machtdenken und Rücksichtslosigkeit sowie Revanchismus erworben werden muss. Wenn Heinrich Mann in Ein Zeitalter wird besichtigt feststellt „die Mächte der Bosheit, der Dummheit und leeren Herzen“ hätten ihn zur künstlerischen Darstellung früher bewogen als die der Güte (zit. nach König 1972 : 141), dann gilt diese Erkenntnis wie wir oben bereits sahen, für den Untertan ebenso wie für den dritten Roman der Trilogie Der Kopf. Heinrich Mann geht davon aus, dass Literatur ein Korrektiv der Gesellschaft zu sein hat, „das Gericht, das der Dichter als Moralist (...) über die Zeit, die er bessern will, hält.“ (König 1972 : 212). Erst später wird Mann - in allerdings noch dunkleren politischen Zeiten - den positiven Helden im guten König Henri Quatre darstellen können.

Für König zeigt sich der Konflikt bei Heinrich Mann am besten im Problem der Dekadenz und der damit verbundenen „Lebensschwäche“, die Heinrich Mann (sowie auch sein Bruder) am eigenen Leib erfahren habe. Der beste Repräsentant dieser Schwäche im Werk Heinrich Manns sei der „Erbe"“ der physisch geschwächt, psychisch labil, ein vom Leben abgesperrter Träumer ohne Arbeit, den Reichtum der Väter übernimmt. Diederich Heßling ist solch ein Erbe (König 1972: 41, 45f.), er gehört zu den Schwachen, die nach Hanno König in Heinrich Manns Frühwerk ein „aus Faszination und Grauen gemischtes Verhältnis (...) zur Macht“ entwickeln. König erklärt das mit Alfred Adler: die Schwachen treffen „Vorkehrungen gegen das Versagen“, haben ein "forsches auf Einschüchterung berechnetes Auftreten“ und sind geneigt, „alle zwischenmenschlichen Verhältnisse, auch die Liebe, die Kunst oder das Erwerbsleben, primär als Machtrelation aufzufassen.“ (König 1972 : 84). Neben diesem „widerstandslosen ‚Umkippen‘ der Schwachen in vorgebliche Stärke" findet man bei ihnen „die Neigung zur Ausschweifung, zu ‚Fieber‘ und ‚Rausch‘, zum Komödiantentum und zur tyrannischen Gewalt.“ (König 1972 : 88). Aus diesem Verhältnis zur Macht erwächst für König „das sittliche Problem der Machtausübung“ (König 1972 : 84). Die Diskrepanz von Schein und Sein des Schwachen führe zu einem moralischen Dilemma: der dekadente Schwache leide an seinem zu viel an Menschlichkeit, an „zu viel Verstehen, zu viel Bedenken, zu viel Voraussicht des Jammers der anderen“, so dass er sich danach sehne, stark zu sein. Das bedeutet aber gleichzeitig, unmenschlich werden zu müssen, zum „ruchlosen“ Gewalt- und Machtmenschen zu werden. Um menschlich zu sein, müsste der Schwache eigentlich schwach bleiben dürfen, aber er darf es nicht, zumindest nicht im Deutschland des ausgehenden 19. Jahrhunderts (König 1972 : 96). König weist an dieser Stelle auf den Grund des Dilemmas hin:

Es kann nicht länger übersehen werde, dass der Gegensatz Stärke-Schwäche biologisch orientiert ist - weshalb der Schwache nicht ohne weiteres stark werden kann - während die Wertpolarität menschlich-unmenschlich der moralischen Ebene zugehört. Beide Polaritäten scheinen sich so lange zu paralysieren, als dieser Unterschied übergangen wird. (König 1972 : 100).

Nur wenn man diese Koppelung des positiven „Werts“ der Stärke an biologisch-vitale, wie sie von Nietzsche in seiner Behandlung des Dekadenzproblems vorgenommen wird, löse, könne man auch das moralische Problem lösen: der Starke sollte menschlich sein dürfen, womit er sich als „Inhaber der Macht, der moralischen Nötigung ausgesetzt (sähe), 'schwach' zu werden (...).“ (König 1972 : 101). Erst unter diesen Umständen könnte die Schwäche des Schwachen als positiver Wert betrachtet werden.

Was König hier am Werk Heinrich Manns entwickelt, den Mut zur Schwäche, hat bis heute nicht an Geltung verloren. In ihren unter dem Titel Kritik der ethischen Gewalt erschienenen Adorno-Vorlesungen von 2002 stellt Judith Butler unter leichter Verschiebung der Fragestellung von der Stärke zur Souveränität fest: „Wie sowohl Adorno als auch Foucault verdeutlichen, muss man nicht souverän sein, um moralisch zu handeln; vielmehr muss man seine Souveränität einbüßen, um menschlich zu sein.“ (Judith Butler 2003 : 11). Die Forderung nach Menschlichkeit ist, wie wir hier bei J. Butler sehen, ein bis heute uneingelöstes Desideratum. Vitalistische Moral der Stärke und Macht auf der einen, Schwäche und Vernunftmoral (König 1972 : 138) auf der anderen Seite, stehen sich bis heute unvereinbar gegenüber. Die Diskrepanz vom Leben wie es ist und wie es in den Augen des Moralisten sein sollte (König 1972 : vgl. die Kapitelüberschriften 145, 187), ist deshalb nach wie vor ein zentrales Thema der Literatur. Das Auseinanderklaffen von Ideal und Wirklichkeit macht den moralistischen Schriftsteller zum Satiriker und damit auch jeden Satiriker zum Moralisten (König 1972 : 441). Im Kapitel „Der Moralist als satirischer Dichter“ definiert König die Satire bei Heinrich Mann:

Satire ist für Heinrich Mann die Beschreibung des unvernünftigen Lebens aus dem höheren Standpunkt der Vernunft, den dieses Leben selbst nicht einnimmt, obwohl es ihn nach der Meinung des Satirikers einnehmen könnte und sollte. (König 1972 : 204).

Satire entsteht also aus dieser Diskrepanz von Theorie und Wirklichkeit, bzw. von Vernunft und Vernunftwidrigkeit des Lebens, von Moral und Herrschaftsmoral. Hanno König demonstriert das an Der Kopf, wo Heinrich Mann die „Vernunftwidrigkeit des Lebens“ hervortreten lasse:

Die satirische Darstellung ist moralisch pointiert und enthüllt die in dem vernunftwidrigen Leben schlummernde Tendenz zur Katastrophe. In der moralischen Sicht ist der Krieg weniger historisches Ereignis und Verhängnis als Erfüllung dieser Tendenz zur Katastrophe, er ist Orgie des Sterbens, die größte Ausweitung der BLUTSPUR durch das ‚Leben wie es ist‘. (König 1972 : 175).

Der Satz kann in Gänze auch auf Der Untertan übertragen werden, der ja immer wieder als Antizipation des ersten Weltkriegs gewertet wird. Heinrich Mann zeigt in seinen satirischen Romanen, dass die vitalistischen Formen von Moral, die der Macht, des Stärkeren, des Erfolgs, unweigerlich in die Katastrophe führen, dass verlogene Doppelmoralen, die den Menschen nicht aus dem Bereich des Vitalen und Biologischen zur Vernunft bringen, ihr doppeltes Spiel mit Menschenleben bezahlen. Obwohl er einer der ersten Leser und Verehrer Nietzsches gewesen sei, hat nach König schon der frühe Heinrich Mann mit dieser Zurückweisung des Sozialdarwinismus eine Abwendung und „moralische Widerlegung“ (König 1972 : 102) von Nietzsches Dekadenztheorie und ihrer Verurteilung alles Schwachen vollzogen. König schreibt:

Der Weltkrieg erscheint als Konsequenz jener amoralischen Machtgesinnung, die Heinrich Mann in der Epoche, da Wilhelm II. Deutschland zur Weltmacht erheben wollte, als Resultat aus Sozialdarwinismus, Nietzsche und völkischer Romantik von den führenden Schichten des Bürgertums Besitz ergreifen sah. (König 1972 : 174).

In der Tat musste Heinrich Mann, wollte er „sittliche Bemühungen“ wieder möglich machen, Abschied vom Philosophen Nietzsche nehmen, der, um seine vitalistische Philosophie des „Willens zur Macht“ und der Ablehnung alles Schwachen durchzusetzen, sich jenseits von Gut und Böse situierte. Auch wenn der Darwinismus als biologische Theorie sich im 19. Jahrhundert durchsetzte, führte er auf die Philosophie übertragen zur Abschaffung der Vernunft. Um letztere zu rehabilitieren, musste Heinrich Mann auf die Kantische Philosophie zurückgehen (König 1972 : 216-264). König widmet das lange letzte Kapitel des zweiten Teils seiner Arbeit dem Einfluss Kants auf H. Mann.) Auch Kant wusste als guter Anthropologe von der grundsätzlich bösen Natur des Menschen, wollte sie aber im Unterschied zu Nietzsche nicht festschreiben, sondern ihr durch die Betonung von Geist und Vernunft ein geistiges Korrektiv an die Seite stellen. „Dem ‚radikal Bösen‘ der menschlichen Natur stellt Kant das radikal Utopische der Vernunft als Pflichtbegriff und einzig denkbare sinnvolle Zielvorstellung des Handelns gegenüber.“ (König 1972 : 236). Dadurch entsteht überhaupt erst die Diskrepanz von Ideal und Wirklichkeit, die die Satire Heinrich Manns prägt. Heinrich Mann ist somit eher ein rational-apollinischer Dichter, der das Dionysische seinen Figuren überlässt. Zumindest der Heinrich Mann der mittleren und späten Periode verkörpert damit eher den Schillerschen Typ des sentimentalischen satirischen Dichters (König 1972 : 3; Emmerich 1980 : 85), der die Widersprüche von Ideal und Wirklichkeit nicht zu überspielen versucht, sondern sie in seinen Texten reflektiert.

Das Zusammenspiel von Schwäche und vitalistischer Stärke kommt in Der Untertan immer wieder zur Darstellung. In einer der wenigen Anmerkungen zu diesem Roman schreibt König, im ersten Satz des Untertan werde „gleichsam in einem einzigen Akkord die ganze 'Psychologie der Schwäche' angeschlagen“ und „als Psychologie des ‚Untertanen‘, gesättigt mit den Details der wilhelminischen Zeit, entfaltet.“ (König 1972 : 114). Nicht zufällig heißt auch ein Sohn des „weichen“ Kindes Diederich "Kraft". (Heinrich Mann: Der Untertan 1996 : 442. Die folgenden Zitate ebenda. Zitate aus Der Untertan werden des Weiteren im Text mit einfacher Angabe der Seitenzahl zitiert.)

Das Thema der Schwäche ist sehr präsent in der Konfrontation mit Diederichs Antipoden Wolfgang Buck. Als Rechtsanwalt im Majestätsbeleidigungsprozess gegen seinen Schwager Lauer stellt Wolfgang Buck einen Zusammenhang von Ästhetik und Moral fest (240). Diederichs Auftritt als Zeuge im Prozess ist für Buck wie auch sein eigenes Plädoyer als Rechtsanwalt nur Schauspielerei (vgl. auch 206), mit Figuren wie dem Zeugen Heßling aber könne dass ästhetische und damit auch das moralische Niveau der Zeit nur verlieren. Buck folgert: „Erlogene Ideale ziehen unlautere Sitten nach sich, dem politischen Schwindel folgt der bürgerliche.“ (239). Buck warnt vor einem neuen Typus des „großen Mannes“ der zum falschen Beispiel wird:

Dann kann es geschehen, dass über das Land sich ein neuer Typ verbreitet, der in Härte und Unterdrückung nicht den traurigen Durchgang zu menschlicheren Zuständen sieht, sondern den Sinn des Lebens selbst. Schwach und friedfertig von Natur, übt er sich, eisern zu scheinen, (...). (240).

Die Richter fordert er auf:

Bei Ihnen liegt die unermessliche Verantwortung, ob künftig Männer wie der Angeklagte die Gefängnisse füllen und Wesen wie der Zeuge Heßling der herrschende Teil der Nation sein sollen. Entscheiden Sie sich zwischen den beiden! Entscheiden Sie sich zwischen der Streberei und mutiger Arbeit, zwischen Komödie und Wahrheit! (240).

Später, im Gespräch mit Diederich, verkündet derselbe Wolfgang Buck:

Sie und ich, wir beiden Gegenpole, führen doch hier die vorgeschrittenen Tendenzen der moralfreien Epoche ein. Wir machen Betrieb. Der Geist der Zeit geht hier noch in Filzschuhen über die Straße. (317).

Gegenpol zu Diederich in der Welt der Erben ist Wolfgang Buck insofern, als er seine Schwäche nur schauspielerisch durch Stärke sublimiert: als er Diederich damit erschreckt, er wolle allem „Unmenschlichen“ und „Untermenschlichen“ an den Kragen gehen und die Fäuste schüttelt, stellt sich heraus, dass er nur Komödie spielt, er verkündet „Es ist nur, damit ihr seht, wir können auch das.“ (316). Wolfgang Buck wird über die Pose nicht hinauskommen, er wird es Diederich, seinem Gegenpol auf der Skala der Schwachen überlassen, dem Netziger Geist „die Sporen anzulegen“ (317).

In Der Untertan erfahren wir sehr genau, was die Vertreter der neuen bürgerlichen Herrenmoral für moralisch und unmoralisch halten. Für Diederich ist es „unmoralisch“, dass Bucks Schwiegersohn Lauer seine Arbeiter am Gewinn seiner Fabrik beteilige, da es die Ordnung „in dieser harten Zeit“ untergrabe (126). Diederich, für den es unmoralisch ist, ein Mädchen ohne passende Aussteuer zu heiraten, ist sich auch mit seiner späteren Frau Guste einig, dass man sich mit einem Menschen wie Wolfgang Buck, dem sogar das Geld egal ist, nicht einlassen dürfe: „Die haben keinen Halt und laufen einem durch die Finger. (...) Wem das Geld wurscht ist, der versteht das Leben nicht.“ (343). Wir erfahren auch, was den neuen Machtmenschen moralisch erscheint. Als Agnes ihn auffordert, doch auch einmal wieder ihre Familie zu besuchen, erwidert Diederich: „Beziehungen wie die unseren soll man mit Familienfreundschaft nicht verquicken. Mein sittliches Gefühl verlangt da reinliche Scheidung.“ (84). Sein „sittliches Gefühl“ dürfte hier schon das von der Burschenschaft vermittelte Verhältnis zu Frauen sein, demzufolge man seine Liebschaften versteckt, um sie später umso einfacher und folgenloser wieder auflösen zu können. Jadassohn seinerseits hält es für seine „sittliche Pflicht“, Frau Guste von Diederichs regelmäßigen Besuchen bei der Prostituierten Käthchen Zillich aufzuklären (451).

Ganz allgemein zeigt sich der Zusammenhang von Schwäche und Machtmoral im Untertan in der Liebe und Sexualität in aller Deutlichkeit. An einer zentralen Stelle des Romans zu diesem Thema, dem letzten Gespräch Diederichs mit Herrn Goeppel, kommt der Zusammenhang deutlich zum Ausdruck: Diederich hat sich entschlossen, sich von Agnes zu trennen, weil sie keine interessante Aussteuer hat. Das wird im Roman so explizit nicht gesagt, aber als Herr Göppel beim Versuch eines klärenden Gesprächs fragt: „Müssen Sie denn wirklich so viel Geld mithaben?“, fühlt sich Diederich erröten, weil er sich durchschaut weiß. Aber genau weil er diese Schwäche an sich fühlt, geht er, wie es heißt: „um so entschlossener“ vor und sagt seinen berühmten Satz : „Wenn Sie es durchaus hören wollen: Mein moralisches Empfinden verbietet mir, ein Mädchen zu heiraten, das mir ihre Reinheit nicht mit in die Ehe bringt.“ (98.) Die hier vorliegende Doppelmoral liegt auf der Hand, die geforderte „Reinheit“ hat Agnes nicht mehr, weil Diederich selbst sie ihr ‚genommen‘ hat. Dem Kontext ist auch zu entnehmen, dass es gar nicht um die „Reinheit“ geht, sondern ganz materiell um die Aussteuer. Das Argument ist eine leere Phrase, man sieht es schon daran, wie Diederich sie rhetorisch einleitet: „Wenn Sie es durchaus hören wollen“. Man erkennt, dass es sich hier um ein häufig missbrauchtes Argument der Zeit handelt. Als er daraufhin Herrn Göppel schluchzen hört, wird auch Diederich selbst wieder weich, in die Rührung mischen sich neben echtem Mitgefühl für Agnes und ihren Vater aber auch gleich wieder Elemente seiner Machtmoral, er ist gerührt „Durch die edel männliche Gesinnung, die er ausgesprochen hatte, durch Agnes' und ihres Vaters Unglück, das zu heilen ihm die Pflicht verbot, durch die schmerzliche Erinnerung an seine Liebe und all diese Tragik des Schicksals...“ Heinrich Mann zeigt hier die psychische Schwäche seiner Hauptfigur, ihren Kampf zwischen echtem Gefühl und falscher Moral der Stärke: auf die Frage welche „Pflicht“ es ihm verbot, das Unglück von Agnes und ihrem Vater zu heilen, würde Diederich wohl keine ehrliche Antwort gewusst haben. Als Agnes' Vater gegangen ist, weint Diederich heftig und spielt Schubert. „Damit war dem Gemüt Genüge getan, man musste stark sein“ heißt es dann gleich wieder. Diederich macht sich Vorwürfe über seine Schwäche und Sentimentalität. Selbst Mahlmann, ein „Knote ohne Komment“, habe ihm, Diederich, „eine Lektion in rücksichtsloser Energie erteilt.“ In diesem Gedanken konzentriert sich die gesamte Machtmoral Diederichs, die nach rücksichtsloser und energischer Durchsetzung strebt, in der Tat ist sie eine Mischung aus „Sozialdarwinismus und Nietzsche“ (König 1972 : 102). In seiner Zerknirschung kann Diederich sich kaum vorstellen, dass auch die anderen in ihrem Inneren so weiche Stellen haben könnten wie er selbst und er sagt sich, dass Agnes nicht die richtige Frau für ihn gewesen wäre, da sie ihn nur noch weicher gemacht hätte. Da sie schwach ist, (ver-) stößt er sie ganz im Sinne Nietzsches, er lässt sie fallen und macht aus ihr beinahe das, was man damals ein gefallenes Mädchen nannte. In seiner psychischen Labilität in der er von einer Stimmung in die andere fällt, schlägt er anschließend wieder um in Euphorie: „‘Nichts zu machen', sagte er sich, in begeisterter Unterwerfung. ‚So muss man sein.‘“ Die Untertanenmoral ist komplett, es sind keine Werte, die er bewusst für sich wählt, sondern es handelt sich um eine Nietzschesche aber auch schon faschistoide Moral des „gelobt sei, was hart macht“, der er sich begeistert unterwirft. Als Agnes ihm bei seinen frühesten Besuchen bei Göppels ein Kompliment macht und feststellt „Heute sind Sie mal nett“, antwortet Diederich „Ich möchte es eigentlich immer sein.“ (27). Der Satiriker Heinrich Mann zeigt uns hier, welch lächerliche Stilblüten Diederichs Moral der Härte zeitigt. In der Auseinandersetzung mit Herrn Göppel erfahren wir auch noch genauer, woher Diederich seine Moral nimmt: "Diederich empfand stolze Freude, wie gut er nun schon erzogen war. Die Korporation, der Waffendienst und die Luft des Imperialismus hatten ihn erzogen und tauglich gemacht.“ (100). Tauglich, wird man hinzufügen dürfen, für das Leben als Untertan in der Wilhelminischen Gesellschaft, tauglich auch als aktiven Vertreter der Machtmoral seiner Zeit.

Die Moral der „Korporation“, der schlagenden Verbindung, beruht auf dem „Komment“, der lächerlichen Verdeutschung des französischen Wörtchens „wie“. Die Fassadenmoral des „Komments“ sagt dem Burschenschaftler, wie er sich zu verhalten hat, die Maßregeln bestimmen letztendlich aber nur, wie man sich in die streng hierarchische Struktur der Burschenschaft einzugliedern hat, dass man etwa beim gemeinsamen Biertrinken mit dem Deckel des Bierkruges nicht nachklappern darf und man sich in lächerlichen und leeren militärischen Ritualen zu fordern und zu schlagen hat, um martialische aber auch falsche Narben im Gesicht zu tragen. Denn wie es um den „Waffendienst“ bei Diederich wirklich steht, haben wir kurz vorher erfahren, ausgerechnet mit Hilfe eines „alten Herren“ aus seiner militärisch organisierten Burschenschaft lässt er sich vom Militärdienst befreien. Das wird ihn aber nicht daran hindern, sich in Netzig später seines Waffendienstes zu rühmen und Mitglied im Kriegerverein zu werden. Auch hier macht Heinrich Mann an seiner „schwachen“ Figur die leere Doppelmoral deutlich, eine Moral, die sich auf leere Formeln gründet. Dass es die „Luft des Imperialismus“ ist, die ihn zu dem gemacht hat, was er ist, glaubt man Diederich unbesehen. Der Roman Heinrich Manns erweist sich hier in der Tat als ein Miss-Bildungsroman (Emmerich 1980 : 29). An die Stelle von bürgerlich-aufklärerischen Werten treten nationalistische „Gesinnung“ und „Komment“. Die bis heute wohl gültigste Formulierung ethisch-moralischen Verhaltens, Kants kategorischer Imperativ: „Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne“ (Immanuel Kant 1990 : 36, § 7) hat in seiner humanistischen Orientierung in der neuen Machtmoral des Imperialismus endgültig keinen Platz mehr, entsprechend müssen die Liberalen alter Schule den nationalen Bürgerlichen das Feld räumen.

Dass aber die von Diederich vertretene Moral der Macht auch für ihn zwei Seiten hat, demonstriert Heinrich Mann in der satirischen Spiegelung des Gesprächs mit Herrn Göppel: als Diederich für seine eigene Schwester bei Leutnant von Briezen in eben der gleichen Sache interveniert, hört er fast denselben Satz, den er zu Herrn Goeppel gesagt hat, und als von Briezen moniert, dass Diederich sich nicht schlagen wolle, stößt letzterer in seiner Hilflosigkeit den Satz hervor, wie ihn Herr Göppel gesagt hat: „Die Schwester verführen und den Bruder abschießen, das möchten Sie wohl.“ (399, vgl. 98). Kants Maxime, anderen nichts anzutun, was man nicht selber angetan haben möchte, gilt hier nicht, es gilt das Recht des Stärkeren. Als er der Macht in Form von von Brietzens Burschen weichen muss, erweist sich Diederich trotz aller Wut im Bewusstsein der für ihn selbst gültigen Moral der Macht als guter Verlierer, er sagt sich „Wer treten wollte, musste sich treten lassen, das war das eherne Gesetz der Macht.“ Er fühlt dabei den heimlichen - masochistischen - Schauer dessen, den sie tritt (400). Vom ritterlichen jungen Offizier von Briezen, der ihm soeben noch Schläge durch seinen Burschen angedroht hat, sagt er sich „Den macht uns niemand nach.“ Die streng hierarchisch funktionierende Herrschermoral gilt nur für die jeweils Schwächeren. Als Diederich hier in aller Frühe erfolglos von von Brietzen heimkehrt, steht nicht Kants „gestirnter Himmel“ über ihm noch das „moralische Gesetz“ in ihm, Kants Idee einer moralischen Gesetzgebung unter Gleichen wird ersetzt durch ein streng nach Machtprinzipien organisiertes „ehernes Gesetz“ des Stärkeren. Die Moral der Macht erweist sich an der Person Diederichs zugleich als Herrscher- und Sklavenmoral, Diederich inkarniert die Untertanenmoral, in der vor allem die hierarchische Struktur und das „Treten und getreten werden“ gelten. Es zeigt sich außerdem, dass Diederichs eigene Moral des „Komments“ eine leere Hülse ist: Diederich hat sich als nicht satisfaktionsfähig erwiesen, als er sich weigerte, sich zu schlagen. Trotzdem hat Diederich, wie Heinrich Mann zeigt, mit genau dieser Untertanenmoral seine Heimatstadt Netzig erobert, gleichzeitig gibt der Satiriker Heinrich Mann aber zu verstehen, dass genau diese amoralische Machtgesinnung Deutschland in die Katastrophe führen wird. Angesichts seiner Niederlage bei von Brietzen kommen selbst Diederich noch einmal Zweifel:

Er sah Emmi an und dachte an Agnes. Agnes, die Weichheit und Liebe in ihm gepflegt hatte, sie war in seinem Leben das Wahre gewesen, er hätte es festhalten sollen! (...) Was hatte er nun? Was hatte man vom Dienst der Macht? (402).

In einem Moment der Schwäche wird dem verhärteten Untertan bewusst, dass die Weichheit und Liebe doch das einzig Wahre im Leben ist und er sehnt sich zurück nach dieser Liebe. Es beschleicht ihn das Gefühl, dass Agnes, „die nichts vermochte als leiden“, nun doch „gesiegt habe“ (402). Mit dieser vom Autor in erlebter Rede dargestellten inneren Erkenntnis Diederichs wird gleichzeitig die aus materiellen Erwägungen geschlossene Ehe mit Guste Daimchen abgewertet, eine Ehe, die von Anfang an mit Lüge und Verrat belastet war, hatte Diederich doch, um Guste zu erobern, - zur Eroberung von Netzig gehörte auch die einer Frau - das Gerücht im Umlauf gebracht, Guste sei eine uneheliche Tochter des alten Buck. Man kann das auch allegorisch lesen: Diederich verzichtet auf die wahre Liebe zur Tochter eines echten Liberalen der Buckschen Schule, heiratet nur eine angeblich natürliche Tochter des alten Buck, das heißt eine hybride Form des traditionellen Liberalismus. Was bei Diederich vom liberalen bürgerlichen Denken übrigbleibt, ist nur noch der rein materielle und machtorientierte Kapitalismus.

An vielen anderen Stellen lässt Heinrich Mann noch die falsche sexuelle Moral satirisch zum Vorschein kommen, etwa als Pastor Zillich gemeinsam mit Jadassohn und Diederich eine Art Stadtführung für den Leser durch Netzig machen, wobei sie "Klein-Berlin", wohl das Bordell, das Theater und das Haus der Loge mit ihren abwertenden moralisierenden Kommentaren versehen. Die Doppelbödigkeit ihrer moralischen Beurteilungen wird dadurch deutlich, als wir es hier mit dem Vater und den künftig zwei besten Kunden von Käthchen Zillich zu tun haben, der zukünftigen Prostituierten für bessere Leute in Netzig (134ff.). Jadassohn und Diederich werden sich später in aller Offenheit über ihre gemeinsame Bekanntschaft austauschen und feststellen, dass man sich in solch menschlichen Dingen näher komme (423). Diederich brüstet sich bei diesem Gespräch, dass seine eigene Frau „leistungsfähiger“ sei als Käthchen. Die sexuelle Lügenmoral entlarvt Heinrich Mann außerdem durch in Netzig auftauchende anonyme obszöne Briefe (440ff.). In einer durch und durch verlogenen aber dennoch moralisierenden Gesellschaft haben solche Briefe, so signalisiert Heinrich Mann, einen fruchtbaren Boden. Die Briefe, die zum Teil die letzten Geheimnisse unter Ehegatten offenbaren, drohen jedes "moralische Selbstgefühl" in Netzig zum Untergang zu verurteilen (440). Schnell findet man einen Schuldigen, Gottlieb Hornung, und entfernt ihn aus der Gesellschaft.

Auch die Kunst betrachtet Diederich ausschließlich als Machtrelation (vgl. König 1972 : 84) unter streng utilitaristischen Aspekten: Bei einer Aufführung des Lohengrin gefällt ihm, dass das Gesagte vom „nationalen Standpunkt aus zu begrüßen“ sei und er fühlt sich in dieser Oper „sogleich wie zu Hause" (347). Die Figuren der Oper beurteilt er danach, ob sie „Komment“ haben, „jüdische Machenschaften“ oder „gutrassiges Benehmen“ verkörpern (348). Er begrüßt die vermittelte Moral der Oper, der zufolge man nichts gegen die Macht zu unternehmen habe (349), die „Geschichte mit dem Gral“, so erklärt er Guste, „soll heißen, der Allerhöchste Herr ist nächst Gott nur seinem Gewissen verantwortlich. Na ja und wir ihm.“ (353). Diederich verkündet außerdem: "Das Theater ist auch eine meiner Waffen", er ist überzeugt: „Tausend Aufführungen einer Oper solcher Art, und es gab niemand mehr, der nicht national war.“ (354). Es dürfte sich hier von Seiten Heinrich Manns nicht nur um eine satirische Distanzierung von Diederichs dilettantischer nationalistischer Reduktion von Kunst auf "Komment" handeln, es findet sich hier gleichzeitig auch eine Kritik an der Wagnerschen Oper, die solche Interpretationen provoziert. Diederich stellt fest: „Ich habe den Lauer in die Vogtei gebracht, aber wer den Lohengrin geschrieben hat, vor dem ziehe ich den Hut ab.“ (354).

Aber nicht nur an der Liebe und der Kunst werden die Zerstörungen gezeigt, die utilitaristisches und sozialdarwinistisches Denken und Handeln anrichten, die Wirkung von Diederichs Moral der Macht und des Erfolgs kommt in Der Untertan vor allem in der Politik in aller Deutlichkeit zum Ausdruck. Auch hier demonstriert Heinrich Mann die Doppelbödigkeit dieser Machtmoral am inneren Schwanken Diederichs, an seiner inneren Schwäche, die eigentlich eine Stärke hätte sein können. Fast gegen Ende des Romans, als er Netzig bereits erobert hat, belauscht Diederich ein politischen Gespräch zwischen dem alten und dem jungen Buck, in welchem der Vater den Sohn auffordert, den „Geist der Menschheit“ gegen die neuen Inhaber der Macht zu verteidigen:

Dem einen dieser beiden waren die Tage gezählt, der andere hatte auch nicht viel vor sich, aber Diederich fühlte, es wäre besser gewesen, sie hätten einen gesunden Lärm im Lande geschlagen, als dass sie hier im Dunkeln diese Dinge flüsterten, die doch nur von Geist und Zukunft handelten. (457).

Dem wichtigsten Vertreter derer, denen, wenn es nach dem alten Buck ginge, nicht das Feld überlassen werden soll, kommen beim Belauschen des Gesprächs nachträgliche Zweifel. Hier als es zu spät ist, nachdem er mit seiner Moral der Macht seine Heimatstadt umgekrempelt hat, entsteht ein Widerstreit im Machtmenschen Diederich, eine nicht ganz verschwundene Schicht einer humanistischen Moral meldet sich. Dieser innere Widerspruch Diederichs ist das, was man seit Hegel das unglückliche Bewusstsein nennt, das Bewusstsein, mit dem, was man ist oder genauer geworden ist, ein glücklicheres, humanes Dasein geopfert zu haben.

Vorher hatte sich Diederich in der direkten Auseinandersetzung mit dem alten Buck ganz anders verhalten. Auf einer Wahlversammlung und dann im Beleidigungsprozess Bucks mit der Netziger Zeitung (426), tritt Diederich im „Vollgefühl seines Rechtes und seiner sittlichen Sendung“ (412) auf. Den Vorwurf Bucks, zu lügen, erledigt er mit noch größeren Lügen und mit Bluff (413). Im Prozess über die Spekulationen um die Firma Gausenfeld, die Diederich Dank Wulckows Intervention an sich bringen will, verkündet Diederich: „Mein Interesse in der Sache war einzig das der Stadt, die nicht durch einzelne geschädigt werden sollte. Ich bin für die politische Moral eingetreten.“ (427). In der persönlichen Konfrontation mit Buck, die den Untergang des letzteren endgültig besiegelt, heißt es: „Und Diederich blitzte. Er blitzte den Alten, der vergebens flammte, einfach nieder, und diesmal endgültig, mitsamt der Gerechtigkeit und dem Wohl aller. Zuerst das eigene Wohl - und gerecht war die Sache, die Erfolg hatte!“ (428). Erfolg hat Diederich mit seiner Intrige, als Verlierer steht der alte Buck da, dem die hereingefallenen Kleinaktionäre auch noch die Schuld an dem Debakel mit der Papierfabrik Gausenfeld geben, die nun von Diederich übernommen wird. Die wirtschaftliche Niederlage Bucks wird in der Öffentlichkeit auch noch zur moralischen umgewertet: "Der geschäftlichen Fragwürdigkeit aber entsprach die moralische, dafür zeugte die nie recht aufgeklärte Geschichte mit der Verlobung seines Sohnes, desselben, der sich jetzt beim Theater umhertrieb." (429). Gegen die liberale Moral des alten Buck hat sich die Erfolgsmoral mit ihren Götzen Erfolg und Macht (König 1972 : 180) als Gesinnung auch im öffentlichen Denken der Netziger durchgesetzt. Wer diesen Erfolg nicht aufzuweisen hat, wird auch moralisch auf die Verliererseite gestellt. Diederich hingegen wird mit einem Orden ausgezeichnet und kann in seinem neuen Großbetrieb unbeschränkt herrschen, für die Arbeiter seiner Firma heißt es nun: „Wer in Zukunft anders wählt, als ich will, fliegt“ und er kann seine Moral der Verbote einführen (433). Es gehört zur satirischen Entlarvung von Diederichs Lügenmoral, dass er seine „moralischen und staatserhaltenden Maximen“ zur „sittlichen Hebung des Volkes“ auf Klopapier drucken lässt, das dann unter dem Markenzeichen „Weltmacht“ seinen Siegeszug durch die Welt antritt (434). Seine neuen moralischen Vorstellungen wird er dann auch noch bei der Einweihungsrede des Denkmals darlegen dürfen.

Mit der satirischen Darstellung der Widersprüche der Wilhelminischen Macht- oder Erfolgsmoral im Roman Der Untertan hat Heinrich Mann eine gültige Charakteristik des Moralbegriffs der Wilhelminischen Zeit vorgelegt, lange bevor diese Charakterstruktur, der autoritäre Charakter, in Soziologie, Psychologie und Philosophie theoretisch verarbeitet wurde. In seiner Autobiographie Ein Zeitalter wird besichtigt schreibt Heinrich Mann, dass ihm bei der Abfassung seines Buches zwar noch der Begriff des „ungeborenen“ Faschismus gefehlt habe, nicht aber die Anschauung (Heinrich Mann: Ein Zeitalter wird besichtigt, 1973 : 187). Wolfgang Emmerich schreibt dazu richtig, dass mit der Entgegensetzung von Begriff und Anschauung der entscheidende Punkt zur Unterscheidung des Romans von einer wissenschaftlichen Behandlung der sozialen Struktur der wilhelminische Zeit liege, Heinrich Mann zerlege Wirklichkeit nicht, sondern reihe Bilder, Erlebnisse, Episoden aneinander. Er individualisiere und versinnliche, wo die Wissenschaftssprache verallgemeinere oder abstrahiere (Emmerich 1980 : 50). Mit der satirischen Entlarvung fordert Heinrich Mann aber auch schon dazu auf, die Doppelmoral auf den Begriff zu bringen, darin liegt der moralische Aspekt des Romans begründet. Wir haben hier ein gutes Beispiel dafür, wie Literatur und Kunst die Wissenschaft antizipieren. In der Fortsetzung der zitierten Passage aus Ein Zeitalter wird besichtigt ist sich Heinrich Mann auch bewusst, dass Der Untertan „früher, als erlaubt“ gekommen sei, dann aber nach 1918 von den Deutschen gelesen wurde, es sei aber nur ein „großer äußerer Erfolg“ gewesen, da die Deutschen dann zu schnell damit „fertig geworden“ und zur Tagesordnung übergegangen seien (Heinrich Mann 1973 : 188). Renate Werner schreibt zu dieser verpassten Rezeption von Der Untertan, „Manns idealistisch-moralistisches Erkenntnissystem mag zum Widerspruch herausfordern“, pflichtet dann aber einem amerikanischen Kritiker von 1945 bei, dass das Leben der Deutschen nach der Niederlage von 1918 einen anderen Lauf hätte nehmen können, wenn sie Heinrich Manns Kritik ernst genommen hätten (Renate Werner 1977 : 48). Nach 1918 schien es den Menschen immer noch leichter sich dem Revanchismus zu verschreiben, als Selbstkritik zu üben.

Dass Der Untertan bis heute lesbar und aktuell geblieben ist, liegt nicht zuletzt auch an der Tatsache, dass Macht - und Erfolgsmoral auch heute noch die Denkmuster bestimmen und immer noch in Katastrophen enden, sittliche Bemühungen im Sinne Heinrich Manns damit nach wie vor vonnöten sind.

-- Der Untertan (1996), Frankfurt am Main, Fischer Taschenbuch Verlag.

-- Ein Zeitalter wird besichtigt (1973), Berlin / Weimar, Aufbau-Verlag.

Bibliographie

Banuls, André (1966), Heinrich Mann. Le poète et la politique, Paris, Klincksieck.

Butler, Judith (2003), Kritik der ethischen Gewalt, Frankfurt am Main, Suhrkamp.

Dittberner, Hugo (1974), Heinrich Mann. Eine kritische Einführung in die Forschung, Frankfurt am Main, Fischer Athenäum Taschenbücher.

Emmerich, Wolfgang (1980), Heinrich Mann Der Untertan, München, Verlag W. Fink, UTB 974.

Kant, Immanuel (1990), Kritik der praktischen Vernunft, Meiner, Hamburg.

König, Hanno (1972), Heinrich Mann. Der Dichter als Moralist, Tübingen, Niemeyer.

Schröter, Klaus (1967), Heinrich Mann, Reinbek bei Hamburg, rororo Bildmonographien.

Werner, Renate (1977), Heinrich Mann. Texte seiner Wirkungsgeschichte in Deutschland, Tübingen, Niemeyer.

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Référence électronique

Ralf Zschachlitz, « Wilhelminische Doppelmoral und Moral in Heinrich Manns Roman Der Untertan », Individu & nation [En ligne], vol. 2 | 2009, publié le 26 février 2009 et consulté le 20 avril 2024. DOI : 10.58335/individuetnation.142. URL : http://preo.u-bourgogne.fr/individuetnation/index.php?id=142

Auteur

Ralf Zschachlitz

Professeur des universités, Centre de recherches Langues et Cultures Européennes LCE (EA 1853), Université Lumière Lyon 2, Faculté des Langues, 86, rue Pasteur, 69007 Lyon – zschachlitz [at] wanadoo.fr